Befreie dich von deiner Vergangenheit
Die meisten Menschen meiden die innere Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sie mit ihrer Mutter (und ihrem Vater) erlebt haben. Der Preis für diese Vermeidung ist hoch. Ich behaupte, dass wir kein annähernd freies Leben führen können, solange wir innerlich nicht aufgeräumt haben mit unseren Gedanken und Gefühlen unserer Mutter gegenüber, d.h. mit den Gedanken und Gefühlen, die wir vor allem in den ersten Jahren unserer Kindheit gedacht und gefühlt haben.
Wenn Sie selbst Mutter sind, dann werden Sie sich durch diese Worte auf doppelte Weise betroffen fühlen, nämlich als Tochter wie als Mutter. Ich lade Sie ein, sich zunächst um sich selbst als Tochter zu kümmern (auch wenn Sie bereits 70 sind) und in Ihr inneres Verhältnis zu Ihrer eigenen Mutter Licht und Liebe zu bringen. Danach werden Sie weitaus besser imstande sein, Ihr Verhältnis zu ihren (vielleicht schon lange erwachsenen Kindern) auch heute noch auf eine völlig neue Grundlage zu stellen.
Die Mutter – die größte Tür in deine Freiheit
Ihre Mutter – der wichtigste Mensch in Ihrem Leben
Da wir als Kind psychisch und physisch vollkommen abhängig sind von unserer Umwelt, im Normalfall von unserer Mutter, ist es nicht übertrieben zu sagen: wir sind unserer Mutter zumindest während der ersten Jahre unseres Lebens mehr oder weniger vollkommen ausgeliefert. Wir sind nicht nur davon abhängig, dass sie uns zu essen gibt, wenn wir Hunger haben, dass sie unsere Windeln wechselt, dass sie uns in jeder Situation hilft, in der wir Hilfe benötigen. Wir sind zugleich vollkommen ihren Wünschen, Ihren Vorstellungen darüber ausgeliefert, was für uns gut ist sowie ihren Launen, ihrer Willkür, Ihren Macken, ihren Verletztheiten, ihren Leiden und Sorgen. Kurzum, nichts was unsere Mutter innerlich oder äußerlich bewegt, entgeht uns als Kind. Wir können uns davon nicht abgrenzen und innerlich einfach sagen: „Mutter, diese Gedanken, diese Sorgen gehören zu dir, behalte sie mal schön für dich.“
So wie wir im Mutterbauch eine Zwangs-Einheit mit unserer Mutter bilden (denn manche Mutter ist nicht gerade erfreut darüber, dass da ein anderer Mensch in ihrem Bauch hockt und größer wird), so sind wir auch als Kleinkind gezwungen, mit dieser Frau zusammen zu sein und uns ihr vollkommen anzupassen, um zu überleben.
Das klingt dramatisch und das ist es aus der Perspektive des Kindes auch. Das Bild von der Mutter-Kind-Beziehung wird häufig geschönt oder romantisiert dargestellt. Es wird von der ‚Mutterliebe’ gesprochen, aber meist übersehen, dass die Mutter ihr Kind nicht 24 Stunden und schon gar nicht bedingungslos lieben kann. Viele Mütter sind schon bald nach der Geburt des Kindes mit diesem überfordert. Ihre Zuneigung und ihre Art der Zuwendung zum Kind schwankt erheblich, je nachdem, wie es ihnen selbst körperlich und psychisch geht. Für viele Mütter ist das Kind eine Belastung, auf die sie nicht vorbereitet wurden. Eine hohe Prozentzahl von Schwangerschaften war nicht geplant und so finden sich viele Mütter damit ab, dass sie schwanger sind. Von überschwänglicher Freude ist nur selten was zu hören. Und in fast jeder Mutter steckt noch ein verletztes Mädchen, das nicht satt geworden ist an Liebe: weder von seiner Mutter noch von seinem Vater noch später von irgendjemandem. Ein verletztes Mädchen erzieht also ein von ihr vollkommen abhängiges Kind. Was für ein Mensch – glauben Sie – kann da heraus kommen als Ergebnis?
Diese innere Befindlichkeit der Mutter führt immer zu unbewusstem Verhalten von ihrer Seiten zum Kind. Und unbewusstes Verhalten führt immer zum Brauchen des Kindes für ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse. Dies ist immer ein Miss-Brauchen, denn das Kind ist nicht dazu da, den Bedürfnissen der Mutter zu dienen, sondern umgekehrt. Andererseits glaube ich, dass auch jede Mutter ihr Kind liebt – aber eben nur in der Begrenzung, wie sie es kann.
Wie haben Sie Ihre Mutter erlebt?
Für unser Seelenwohl und unsere Befreiung ist es hilfreich, uns daran zu erinnern, auf welche Weise wir unsere Mutter als Kind wahrgenommen haben. Darum lade ich Sie ein, einige Fragen in sich aufzunehmen und wirken zu lassen. Diese Fragen finden Sie auch im ersten Teil meiner Meditations-CD „Die Mutter meiner Kindheit“ als Vorbereitung auf eine innere befreiende Begegnung mit unserer Mutter.
War Ihre Mutter eine anwesende Mutter oder eher oder oft abwesend?
Dies ist eine sehr wichtige Frage. Wenn Sie als Kind Ihre Mutter häufig als abwesend empfunden haben, sei es wegen ihrer Berufstätigkeit oder weil sie soviel anderes zu tun hatte, z.B. viele Geschwister zu versorgen hatte oder sich mehr um ihren Mann gekümmert hat, dann haben Sie als kleines Kind hierauf innerlich re-agiert.
Es hat Ihr Gefühl von Geborgenheit in dieser Welt und von Vertrauen in das Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr beeinflusst, und zwar auf negative Weise. Kinder, die ihre Mutter häufig oder eher als abwesend wahrnehmen, denken z.B. ‚Mütter (oder Frauen) verlassen einen oft. Oder: ‚Auf Frauen/Mütter kann man sich nicht verlassen.’ Oder: ‚In dieser Welt ist man oft allein.’ Oder noch einfacher: ‚Ich bin allein.’
Kinder, die als Kind solche oder ähnliche Gedanken von Allein- oder Verlassen-sein gedacht haben, fühlen sich auch als Erwachsene innerlich meist allein und verlassen. Sie versuchen, dieses Gefühl entweder zu verdrängen, weil es schmerzt oder sie versuchen, es zu kompensieren, indem sie sich einen Partner suchen, der sie bitte nicht wieder allein lassen soll. Aber kein noch so liebender Partner kann die alte Wunde der Verlassenheit heilen, solange der erwachsene Mensch seine eigene Schöpfung nicht durchschaut und erkennt, dass er sich mit seinen unwahren Gedanken selbst allein gelassen hat und bis heute Einsamkeit, Verlassenheitsgefühl und ähnliches produziert und nährt.
War die Mutter andererseits ständig anwesend und um das Kind herum, kommt es darauf an, wie das Kind ihre Anwesenheit empfunden hat. War die Mutter einfach präsent und da, sobald das Kind sie rief oder brauchte, oder war sie auf kontrollierende, überbehütend-ängstliche Weise ständig um das Kind herum, auch wenn dieses nicht nach ihr verlangte? Im letzten Fall kann die anwesende, kontrollierende und sorgenvolle Mutter zum einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins im Kind geführt haben.
Solche Kinder können sich auch als Erwachsene nur schwer oder kaum aus der inneren Abhängigkeit von der Mutter lösen. Sie können dies leicht selbst prüfen bei sich: Was empfinden Sie, wenn Ihre Mutter Sie abends anruft und fragen würde, was Sie denn am Tage so alles gemacht haben? Oder wenn Sie sagt, dass ihr Ihr neuer Partner gar nicht gefällt.. Oder wenn Sie bei einem Besuch bei Ihnen sagen würde: „Wie sieht’s denn bei dir aus?“ An Ihrer inneren Reaktion von Ärger, Beklemmung, Wut oder sonst was ist nicht ihre Mutter schuld. Es sind Ihre eigenen unfreien Gedanken über sich selbst, die sie in solche Abhängigkeitsgefühle hineinmanövriert haben. Oder anders gesagt: Das kleine Kind in Ihnen glaubt immer noch an seine Gedanken von damals wie: ‚Mutter lässt mich nicht in Ruhe. Sie lässt mich nicht so sein, wie ich sein will. Sie will mich ändern. Ich halte diese Frau nicht aus.’ usw.
War Ihre Mutter eine starke oder eine schwache oder gar leidende Frau aus Ihrer Sicht als Kind?
Auch diese Frage ist von großer Bedeutung. Denn Ihre Mutter ist die erste Frau, die Sie als Kind erleben und da Sie in der Regel keinen Vergleich mit anderen Frauen haben (so wie das früher in Großfamilien möglich war), schließen Sie von dieser Frau zunächst auf alle Frauen der Welt. Wenn Sie Ihre Mutterbeziehung nicht liebevoll anschauen und aufarbeiten, suchen Sie sich, wenn Sie ein Mann sind, später eine Frau, die Ihrer Mutter sehr ähnlich ist oder das genaue Gegenteil und wenn Sie eine Frau sind, ertappen Sie sich früher oder später mit Eigenschaften an sich selbst, die sie damals an Ihrer Mutter abgelehnt haben.
Oder Ihr Partner entdeckt diese an Ihnen und sagt Ihnen dies in einer Stunde der Verstrickung mit den Worten: „Du bist genauso wie deine Mutter !“ Und wenn Sie das trifft und es weh tut, dann können Sie davon ausgehen, dass er recht hat.
Ist Ihre Mutter eine schwache oder leidende Frau gewesen, dann lohnt es sich zu erinnern, an was genau sie gelitten hat. War es ihr Vater, unter dem sie gelitten hat? War es ihr eigener kranker oder kränklicher Körper? Waren es ihre Mutter oder ihr Vater, an denen Ihre Mutter litt. Die Folgen schwacher oder leidender Elternteile, insbesondere Mütter, sind für das heranwachsende und später erwachsene Kind enorm. Warum?
Ein Kind ist – auch nach der Geburt – ein ‚offenes Wesen’, d.h. ein vollkommen offenes Energiesystem, das sich nicht gegen die Energien seiner Eltern wirksam abgrenzen kann. Jedes Leiden und jede Schwäche berührt das Kind innerlich; ja mehr noch: jedes Kind versucht instinktiv, die Mutter (oder auch den schwachen Vater) zu entlasten und sagt innerlich zu ihm: „Mama (Papa) ich helfe dir oder ich will dich retten. Ich nehme dein Leiden auf mich und trage es für dich.“ Dies tun Kinder nicht aus Liebe, sondern aus Gründen der vermeintlichen Selbsterhaltung. Da das Kind sich völlig abhängig von Mama und Papa fühlt, glaubt es letztlich, selbst sterben zu müssen, wenn Mama an ihrem Leiden oder ihrer Schwäche stirbt. Ein Leben ohne Eltern kann sich ein kleines Kind einfach nicht vorstellen.
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