Nach der Erleuchtung, die Wäsche.
(frei nach Jack Kornfield)
von Ralph Wilms -
„Schon über 10 Jahre praktizierte der Schüler regelmäßig Meditation, aber die Erleuchtung war noch nicht eingetreten. Eines Nachmittags sah sein Lehrer, dass der Schüler bereit war. Er erklärte ihm, dass dieser das Kloster verlassen müsse und auf den Gipfel eines heiligen Berges gehen solle. Dort lebte ein erleuchteter Meister, aber das erzählte ihm der Lehrer nicht. Der Schüler verließ schweren Herzens das Kloster und war bereit die Wanderung anzutreten, um auf dem Berg Erleuchtung zu finden oder zu sterben.
Auf halber Strecke kam ihm ein alter Mann, mit einem Wäschesack um die Schultern, entgegen. Es war der Meister des Berges. Als er sah, dass der junge Mönch mit großer Bestimmtheit den Berg hinaufstieg, wusste er, dass dieser bereit war. Als der junge Mönch für einen Moment tief in die Augen des Meisters blickte, ließ dieser den Wäschesack fallen. Als der Sack auf den Boden fiel, erlebte der junge Mönch Erleuchtung. Er erkannte, dass er in der Gegenwart eines großen Meisters war. Dann fragte er: „Was jetzt, Meister?“ Aber der Meister sagte nichts. Stattdessen beugte er sich langsam nach vorne, hob den Wäschesack wieder auf und setzte seine Reise ins Tal fort. Der junge Mönch hatte verstanden.“ (Zen-Tradition)
Diese Geschichte aus der Zen-Tradition beinhaltet verschiedene Botschaften. Das Kloster zu verlassen deutet an, den eigenen Weg zu gehen. In den klischeehaften, von wirtschaftlicher Logik durchdrungenen, durchfunktionalisierten Welt erleben wir oft in Beziehungen nichts anderes, als die Wiederholung des ewig Gestrigen. Die meisten Beziehungen sind ein Deal, der darin besteht sich gegenseitig in einer engen Rolle und limitierten Identität zu begegnen, nach dem Motto: „Wenn Du mich bestätigst, in dem was ich glaube was ich bin, werde ich dich bestätigen, in dem was Du glaubst, was Du bist.“
Die Gemeinschaft zu verlassen ist hier sicher auch metaphorisch gemeint. Geh Deinen eigenen, den inneren Weg, sei authentisch! Kümmere Dich nicht darum, was die anderen sagen werden. Das sind nur Stimmen in deinem Kopf, die dich davon abhalten, Dir selbst zu folgen und ein authentisches Leben zu führen.
Der junge Mönch ist bestimmt in seiner Absicht. Er hat entschieden, dass es seine wichtigste Priorität ist, den Berg zu erklimmen, um dort Erleuchtung zu finden. Nichts kann ihn aufhalten. Entweder er findet sie oder er ist bereit zu sterben. Innere Befreiung ist seine erste Priorität. Alles was wir erleben spiegelt sich in unserem Inneren. Sobald wir in die Dimensionen unserer Gedanken, Gefühle, Haltungen und Einstellungen mehr Bewusstsein erlangen, werden wir unabhängig von äußeren Ereignissen. Wir erkennen, dass diese Unabhängigkeit von der äußeren Welt wirkliche Souveränität und Freiheit ist. Was wirklich zählt ist die innere Entwicklung, die Entfaltung dessen, was als Potential in uns schlummert.
Der Moment, in dem der junge Mönch dem Meister in die Augen blickt, steht für das Jetzt. Der Augenblick ist das Eingangsportal in die Erleuchtung, nicht der Zeitstrom. Im Jetzt, im Kontakt mit unserem Wesenskern, findet Transformation statt, nicht in den gedankenverlorenen Prozessen des Alltags. Wenn wir das Jetzt zum Forschungsgegenstand unserer Kontemplation machen, entkommen wir der Planungsfalle, mit der der Verstand ununterbrochen beschäftigt ist. Dann entdecken wir die Tiefendimension des Jetzt, die uns die Vitalität und Lebensintensität zurückgibt, die wir als Kinder erlebten. Wenn wir bereit sind unseren „alten Wäschesack“, gefüllt mit Ängsten, Konditionierungen, Sorgen, Belastungen, Gedankenmustern und Beliefs, für einen Augenblick vollständig loszulassen.
Plötzlich hören wir die Stimme des transpersonalen Selbst. Sie öffnet uns für die Frische und Spontaneität eines authentischen Lebens. Manchmal reicht eine einzige tiefe, transzendente Erfahrung, um das Leben komplett zu verändern. Die transformative Kraft von Erleuchtungserfahrungen kann so stark sein, dass wir dann auch den „Sack mit der alten Wäsche“ mit Leichtigkeit wiederaufnehmen können. Aber er wird sich anders anfühlen. Wir erkennen dann, dass uns Probleme auf der Lebensreise in die Potential- und Bewusstseinsentfaltung unterstützen, weil sie uns zeigen, wo wir noch festhängen.
Unsere Seele ist frei und wild, wie ein Vogel. Sie ist ein Nomade, sie will fliegen, am besten ohne Gepäck.
Herzlichst
Ralph Wilms
Gründer der Transpersonalen Akademie
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