Ignorant sein und sich auch noch toll dabei finden
oder : Wie werde ich von meinem jetzigen Standpunkt aus so authentisch wie möglich?
von Oliver Unger
Liebe Leserin, lieber Leser, mach dir folgendes klar: an irgendeinem Punkt in deinem Leben wirst auch du mal ignorant sein. Vielleicht geschieht es, sobald du vor deiner Mutter stehst, während sie dir mal wieder ihren selbst gebackenen Erdbeerkuchen entgegenstreckt, den du schon seit siebenunddreißig Jahren nicht magst.
Oder es wird dir geschehen, sobald dein Chef vor dir steht und dich mit seinen Ausführungen zu seinem letzten Urlaub langweilt.
Oder du bist es, wenn du in der Warteschlange hinter jemandem stehst, dem du vor lauter Frust am liebsten mal ganz kräftig den Einkaufswagen in die Hacke fahren würdest. Und wenn du gescheit bist, bist du dann ignorant, wenn dein Nachbar, mit dem du schon immer mal ein intimes Stündchen verbringen wolltest, vor deiner Haustür steht und sich ein Pfund Zucker von dir leihen möchte.
Was heißt das "ignorant zu sein"?
Ignorant bist du dann, wenn du dir nicht eingestehst, was JETZT grade in dir da ist. Es mag sein, dass du einen Impuls unterdrückst. Oder auch ein Gefühl. Ignoranz bringt dich in einen Zustand des künstlichen Gleichmuts. Diese scheinbare Gelassenheit ist aufgesetzt - entweder kurzzeitig oder als unbewusster Mechanismus dauerhaft antrainiert. Menschen, die so dumm sind und nur glauben, was sie mit den Augen sehen, halten dich dann tatsächlich für freundlich und zufrieden.Doch in dir brodelt ein Vulkan. Aber er ist von einer dicken Erdkruste umschlossen. Sein Feuer kann nicht heraus kommen.
Ignoranz macht uns gesellschaftsfähig. Sie erschafft die Fassade, die scheinbar nötig ist, um "durchzukommen", nicht aufzufallen. Aber sie dient letztlich nur deinen eigenen Interessen. Ignoranz bewirkt, dass niemand weiß wer du wirklich bist und was in dir vor geht. "Das ist doch gut so!" denken manche. Ich sage: "Sowas denkst du nur, wenn du verletzt worden bist, als du einmal vielleicht ganz offen und weich warst."
Ignoranz ist egoistisch. Jemand, der ignorant ist, teilt sein Inneres nicht mit anderen. Und damit verheimlicht er auch seine Erfahrung. Er verheimlicht sein Licht, seine intuitive Weisheit. All das ist aber unser größter Reichtum, unsere persönliche Schatzkammer.
Deswegen braucht diese harte Kruste "Ignoranz" Erschütterung, damit sie aufbrechen kann. Solche Erschütterung ist natürlich nicht ganz sanft zu dir.
Um auf die Beispiele zurückzukommen: Vielleicht musst du deiner Mutter den Kuchen um die Ohren hauen. Dann wird sie endlich sehen, dass es dich wütend macht, dass sie dir nicht zuhört, wenn du ihr erklärst, dass du den Kuchen nicht magst. Dafür musst du dir aber erst mal selbst deine Wut eingestehen. Deine Mutter WILL dich offensichtlich nicht verstehen. Was nützt es so zu tun, als wäre das das Natürlichste von der Welt?! Dieses Eingeständnis und seine Folgen können äußerst unangenehm sein.
Also bleiben wir lieber bis zu den Knien in der Scheiße stecken und behaupten noch, dass alles gut sei. Wir haben uns doch gut im Griff. Wir haben den Überblick. Wir wissen bescheid und wir sind doch normal!
Das glauben wir. Ich sage: vergiss das! Du weißt nichts und du bist nicht normal. Und du hast auch nichts im Griff. Das Leben kann dich jederzeit überrollen wie ein Tsunami. Und jederzeit kann der brodelnde Kessel in dir explodieren wie ein Vulkan.
Was ist dann mit deiner Kontrolle? Essig!
Wenn du dich schon nicht traust, "Butter bei de Fische zu tun", dann feier das wenigstens. Das könnte so aussehen: "Ich bin ignorant und find's super!" Das ist die Lösung all deiner Probleme. Ich nenne das den Nagelstudio-Trick: Unten drunter fault es munter vor sich hin, aber ich schmiere weiter lustig buntes Acryl drauf, dann sieht man es nicht. Und soll ich dir was sagen? Es funktioniert. Und wenn es richtig weh tut, dann hörst du so wie so von allein damit auf. Alle Therapien, alle Bücher zu dem Thema sind vollkommen überflüssig, denn wenn's weh genug tut, lassen wir den Mist von selbst bleiben.
Bücher und Therapien und Seminare sind für Menschen, die Lust haben, ohne größeren Schmerz durchs Leben zu gehen. Leider werden grade diese Menschen anscheinend mit mehr Schmerz "bestraft". Je höher man steigt, desto kräftiger der Wind - so denkt man.
Aber sie haben nicht mehr Schmerz. Sie nehmen den Schmerz, den wir alle in uns tragen einfach nur mehr wahr. Denn eins ist sicher. Während Anwender(innen) des Nagelstudio-Tricks schon völlig verzweifeln, wenn die Frisur mal nicht sitzt, kann es bei den Eso- und spirituellen Leuten durchaus zu schlimmeren Katastrophen kommen, bevor sie sich wirklich am Ende ihrer Kräfte fühlen.
Bringt der ganze Psycho-Quatsch also doch was?
Manche haben ihre Erdkruste bereits gelöst und ab und zu darf der innere Vulkan mal ein bisschen Feuer speien. Doch darauf kommt es nicht an. Es kommt drauf an, dass du deinen Zustand, wie er in jedem Moment ist, in voller Wachheit und Intensität lebst. Nimm ihn dir, sauge ihn auf. Das ist die höchste Disziplin, das gibt die meiste Lebensqualität.
Ihr Oliver Unger