Seelische und spirituelle Prozesse - Gefahren ganzheitlicher Ansätze.
von Dr. Sylvester Walch -
Durchbruch zum Menschsein - Gefahren ganzheitlicher Ansätze.
Die Natur des Menschen ist so komplex, dass wir mit Karl Popper (unveröff. Vortrag, 1979) sagen können: „Wir einen uns im Nichtwissen, ein wenig unterscheiden wir uns im Wissen.“
Der menschliche Geist ist so beschaffen, dass er sich selbst nur fragmentarisch erfassen kann.
Seit Immanuel Kants (vgl. 1977) „Kritik der reinen Vernunft“ wissen wir, dass die Bedingungen des Erkennens nie vollständig transzendiert werden können und zudem der gesellschaftlichen und kulturellen Prägung unterliegen. In jüngster Zeit ist es vor allem Marcus Gabriel (vgl. 2013), der den Versuch, die Welt gesamthaft erfassen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sieht.
In seinem Entwurf eines neuen Realismus geht er zwar davon aus, dass unser Erkennen tief in die Seinssphäre hineinreichen kann und nicht nur auf Konstruktionen beruht, aber er macht auch verständlich, dass dies trotzdem nur perspektivisch und fragmentarisch sein kann. Das größere Ganze bleibt eine Annahme, weil wir, wenn es existieren sollte, nur Teil davon sein können.
Daher bleibt unser Wissen stets subjektiv, selektiv, bruchstückhaft und vorläufig. Das muss man sich immer wieder bewusst machen, um nicht der Gefahr dogmatischer Verengung zu erliegen. Erik Erikson (vgl. 1971) weist darauf hin, wenn er warnt, dass zwischen Ganzheitlichkeit und Totalitarismus nur ein sehr schmaler Grat ist.
Wir haben die Sehnsucht, genau wissen zu wollen, wo es langgeht und das macht sogar große Geister anfällig für barbarische Weltanschauungen.
Martin Heidegger (vgl. 1976), einer der wichtigsten Wegbereiter der Daseinsanalyse, konnte sich der Faszination des Nationalsozialismus nicht entziehen. Er, der sich zeitlebens mit der grundlegenden Frage nach dem „Sein des Seienden“ beschäftigte, gab 1966 in einem Interview mit dem „Spiegel“ zu, 1933 von der Größe und Herrlichkeit des nationalen Aufbruchs überzeugt gewesen zu sein. Diese Spuren sind sogar in der totalitären Konzeption seiner „Fundamental Ontologie“ zu finden.
Auch Karlfried Dürckheim (vgl. 1989 u.1992), der Begründer der Initiatischen Therapie, stand damals im Bann des Nationalsozialismus. Er arbeitete während des Krieges als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Japan mit dem Auftrag, die dort praktizierten Erziehungsmethoden wissenschaftlich zu erforschen.
Die Nazis waren an den pädagogischen Techniken, mit denen die Japaner damals die gesamte Gesellschaft durchmilitarisierten, ebenso interessiert wie an ihren sakralen Meditations- und Bewusstseinsübungen. 1942 veröffentlichte Dürckheim (vgl. Trimondi, 2002) in Japan eine Nazipropaganda Schrift „Neues Deutschland – Deutscher Geist…“ Selbst sagte er über diese Zeit: „Ein Nazi war ich nicht, aber auch kein Anti-Nazi“. Nach dem heutigen Wissensstand eine glatte Lüge, da er von Anbeginn Mitglied der SA war und vor allem in Japan als Propagandafunktionär wirkte.
Es geht mir hier nicht um Verurteilung. Für mich persönlich waren Martin Heidegger und Graf Dürckheim hochgeschätzte geistige Lehrer, die selbst viele Wandlungen durchgemacht haben.
Vielmehr will ich für die Möglichkeit sensibilisieren, dass wir uns in einer vergleichbaren Situation ähnlich verhalten könnten.
Spirituelle Kosmologien verleiten auch nicht selten dazu, die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit unserer Existenz zu bagatellisieren. Battegay (vgl. 1991) betont deshalb nicht zu Unrecht, dass die Verdrängung dieser „narzisstischen Wunde“ des Menschen anfällig macht für vorschnell harmonisierende Lebensideologien.
Krankheit, Tod, Konflikte und Schwierigkeiten gehören essenziell zum Leben. Diese Grundbedingungen des Daseins umgehen zu wollen, wie etwa durch eine verkürzte Interpretation des buddhistischen Konzepts der Leidbefreiung, weckt überhöhte Erwartungen und führt zu einer neurotischen Spaltung zwischen Ideal- und Realzustand der Persönlichkeit (vgl. Horney, 1975).
Selbstverwirklichung und Erleuchtung erreichen vermutlich nur wenige Menschen. Deshalb ist es ratsam, davon auszugehen, dass wir uns diesem Ziel nur annähern können. Mit Sicherheit ist es weniger schädlich, vollkommen zu sein und es nicht zu merken, als umgekehrt.
Das Ego kann sich überall hineindrängen und insbesondere der spirituell Suchende ist davor am wenigsten gefeit. Chögyam Trungpa (vgl. 1999) rät uns, diesbezüglich ein Portion Skepsis uns selbst gegenüber zu pflegen, um nicht einem „spirituellen Materialismus“ zu frönen.
Der Begriff des Egos, führte in der strittigen Diskussionen über den Einbezug spiritueller Aspekte in die Psychotherapie, nicht selten zu Missverständnissen, weil er nur unzureichend gegenüber dem Ichbegriff der psychotherapeutischen Traditionen abgegrenzt wurde. Deshalb soll später ausführlich darauf eingegangen werden. Jetzt erscheint es aber wichtig, einen Blick in das Innerste oder die Wesensnatur des Menschen zu werfen.
Herzlichst
Sylvester Walch
Legende:
Sylvester Walch, Dr. phil., geb. 1950. Studium der Psychologie, Psychiatrie und Philosophie. Ausbilder für Psychotherapie und Lehrsupervisor für Integrative Therapie, Integrative Gestalttherapie, Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen. Lehraufträge an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum.
Er leitete über viele Jahre eine stationäre psychotherapeutische Einrichtung und verfasste zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Bücher: u.a. „Dimensionen der menschlichen Seele“, „Vom Ego zum Selbst„ und „Subjekt und Realität“.
Sylvester Walch verfügt über eine langjährige Meditationspraxis und entwickelte einen kulturübergreifenden spirituellen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Praxis verbunden werden.
Er ist Gesamtleiter des Weiterbildungscurriculums „Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen“.