Können wir dem Leben vertrauen? - Mitgefühl üben.
von Dr. Sylvester Walch -
Dem Leben vertrauen und Mitgefühl üben in schweren Zeiten.
Es ist mir eine große Freude, Sie zu meiner ersten Kolumne "Dem Leben vertrauen" begrüßen zu dürfen. Da ich Sie auch durch die nächsten Monate begleiten werde, lassen Sie mich anfangs ein paar Worte zu mir sagen. Seit nahezu 40 Jahre helfe ich Menschen, Krisen zu bewältigen, Lebensprobleme zu lösen, Sinnfragen zu beantworten und ihre spirituelle Entwicklung voranzubringen.
Dabei sammelte ich Erfahrungen in der Psychiatrie, leitete ein psychotherapeutisches Krankenhaus, arbeitete in einer freien Praxis und führte unzählige Seminare durch. Darüber hinaus bilde ich Psychotherapeuten aus, biete Workshops mit veränderten Bewusstseinszuständen (Holotropes Atmen) an und entwickelte einen überkulturellen spirituellen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Übung verbunden werden.
Meine Erfahrungen habe ich auch in mehreren Büchern ausführlich beschrieben. Oft werde ich nach grundlegenden Einsichten gefragt, die ich in den vielen Jahren der Wegbegleitung von Menschen gewonnen habe.
Zwei Erkenntnisse haben sich für mich im Laufe der Jahre immer mehr herauskristallisiert:
Wir können dem Leben, so wie es sich vollzieht, grundsätzlich vertrauen. In unserem Inneren wirkt eine Weisheit, die größer ist als wir selbst.
Diese Sätze wirken angesichts des Leids, das wir tagtäglich antreffen, sicherlich befremdlich. Denken wir beispielsweise an den Hunger in der dritten Welt, an Bürgerkriege, an Diktaturen, an die größer werdende Schere zwischen armen und reichen Menschen, an die Ausbeutung der Umwelt, so wird es vielen schwerfallen, an eine innere Weisheit, die unsere Entwicklung positiv voranbringt, zu glauben.
Dies gilt selbstverständlich auch für individuelle Schicksale, wenn etwa Kinder roher Gewalt in der Familie ausgesetzt sind, sexuellen Missbrauch erleiden oder wenn Menschen schwere Schicksalsschläge, Erkrankungen, Unfälle und so weiter hinnehmen müssen.
Diese Beispiele werden häufig angeführt, um darzulegen, dass es eine Menge Ungerechtigkeit gibt, die den Glauben, dass ein göttliche Funken in uns existiert, schwer erschüttern. Es ist wichtig, dass wir diese Sichtweise zunächst anerkennen, denn das Böse in uns und in der Welt zu verharmlosen oder schlicht durch Karma zu erklären, wäre zynisch.
Wir kennen solche Sätze wie „das hat sicher seinen Grund“ oder „der hat in einem früheren Leben Mist gebaut“ oder „der ist halt in seiner Entwicklung noch nicht so weit“.
Durch diese oberflächlichen Deutungen wurde in der esoterisch-psychologischen Szene viel Schaden angerichtet, weil sich die Betroffenen in ihrem Leid nicht gesehen fühlen und sich daraufhin zu Recht zurückziehen.
Wichtig ist in solchen Situationen, sich verstehend einzufühlen statt zu erklären, Mitgefühl zu üben statt sich über andere zu stellen und Hilfe anzubieten statt wegzugehen.
Jeder Mensch, unabhängig von seinem Schicksal und seinen problematischen Verhaltensweisen, ist auf Liebe, Wertschätzung und Offenheit angewiesen. Nur so sind Wunden zu heilen, Verstrickungen aufzulösen und alte Muster abzubauen.
Abwertungen, oberflächliche Vorurteile oder selbstgerechte Ratschläge, die wie Schläge erlebt werden, führen in der Regel dazu, dass sich Menschen verschließen, zurückziehen und sich in ihrem inneren Prozess allein gelassen fühlen.
Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und denken Sie an eine Situation, in der Sie sich verzweifelt oder niedergeschlagen gefühlt haben. Vielleicht werden Sie bemerken, wie Sie sich in diesen schweren Zeiten des Lebens innerlich eng, unsicher und scheu fühlten.
Wenn in diesen schweren Momenten andere Ihnen gegenüber belehrend, herablassend oder verständnislos reagieren, ist es, wie wenn man noch Salz auf die wunden Stellen streut. Dann zieht man sich zusammen und betäubt den Schmerz , um sich gegen weitere widrige Einflüsse abzuschirmen.
Darüber hinaus geschieht es nicht selten, dass man sich auch selbst abzuwerten beginnt. Das ist ein Teufelskreis, denn Sie selbst setzen das dann fort, was andere mit Ihnen gemacht haben. Gerade wenn es uns schlecht geht, mit uns selbst noch hart ins Gericht zu gehen, ist ein äußerst selbstdestruktiver Mechanismus, der häufig zu beobachten ist.
Das ist so, als würden wir auf ein krankes Kind noch einschlagen, anstatt sich liebevoll über es zu beugen. Buddha sagt: „Selbst wenn Du alle Winkel des Universums aufsuchst, wirst Du doch keinem einzigen Wesen begegnen, das mehr Herzensgüte verdient hat, als Du selbst.“
Probieren Sie es doch einmal aus, sich selbst gegenüber Mitgefühl zu praktizieren, wenn Sie sich mies fühlen und Sie werden sehen, welche Früchte das trägt. Sie werden weich, können Ihre Gefühle zulassen und sich für Unterstützung öffnen.
Wenn wir uns nur vorstellen, dass sowohl wir selbst als auch unsere Mitmenschen diese Haltung verkörpern könnten, werden wir spüren, dass dadurch eine Atmosphäre entstehen kann, in der Verletzungen heilen, Probleme bewältigt und Wachstum gefördert werden.
Sicherlich ist das nicht einfach, weil wir wir uns an das Gegenteil gewöhnt haben. Ich selbst muss dieses heilsame Mitgefühl auch immer wieder üben, um es mir und anderen gegenüber im rechten Moment ausdrücken zu können.
Dass ich trotz dieser vielen Probleme und manchmal schwer aufzulösenden Widersprüche, mit denen wir es auf dem Wege zur Bewusstwerdung zu tun haben, davon überzeugt bin, dass uns eine Innere Weisheit innewohnt, soll von Kolumne zu Kolumne "Dem Leben vertrauen" klarer werden.
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch