Vom Ego zum Selbst - Todesnähe.
von Dr. Sylvester Walch -
Todesnähe (S. 62-63; Vom Ego zum Selbst)
Die Frage, was an der Grenze zwischen Leben und Tod passiert und was sich jenseits dieser Grenze auftut, hat die Menschen von jeher in den Bann gezogen. Trotzdem ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod von einer eigenartigen Zwiespältigkeit geprägt.
Einerseits gibt es kaum einen Film oder eine Zeitungsausgabe, in der nicht gestorben wird, und andererseits fällt es außerordentlich schwer, mit Angehörigen über den nahenden Tod einer Person zu sprechen, geschweige denn, sich in jungen Jahren mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen.
Die Unausweichlichkeit des Todes scheint für die menschliche Natur eine tiefe narzisstische Kränkung zu sein, so dass der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode in den religiösen Heilserwartungen vieler Völker eine große Rolle spielt: im Schamanismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, im Islam und in der israelisch-jüdischen Glaubenswelt, in den Jenseitsideen der christlichen Religion, aber auch in so manchen Totenkulten und Gebräuchen, die sich selbst in Europa zum Teil bis in unsere Tage erhalten haben.
Völkerkundliche Forscher sehen gerade in den Bestattungs-riten der Urzeit eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema Tod.
Dies wird als Zeichen einsetzender Selbstreflexion gedeutet, die den Übergang vom Primaten zum Menschen markiert.
Wenn wir uns nun an den Zustand in Todesnähe herantasten wollen, so geben uns Berichte von Fastgestorbenen, Todeserlebnisse in veränderten Bewusstseinszuständen und die Aufzeichnungen in den Totenbüchern wertvolle Hinweise.
Anthropologen gehen sogar davon aus, dass in den tibetischen und ägyptischen Totenbüchern, die Hilfestellungen für den Übergang geben, die Erfahrungen im Nahtodzustand oder von induzierten Bewusstseinsreisen mit einfließen.
Das Sterben sieht man dabei generell als einen Durchbruch zur Transzendenz, als einen Akt der Reinigung von früheren Verfehlungen und als eine Vorbereitung für eine folgende Wiedergeburt. Es finden sich dort aber auch Übungen für eine seelisch-geistige Erneuerung, die wir im Alltag praktizieren können.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus meinem Buch "Vom Ego zum selbst".
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch