Vom Ego zum Selbst - Rezension von Markus Angermayr.
von Dr. Sylvester Walch -
Vom Ego zum Selbst - Rezension von Markus Angermayr.
Sylvester Walchs aktuelles Buch widmet sich dem Anliegen des Autors zwischen Spiritualität und Psychologie zu vermitteln und diese Synthese in ein ganzheitliches wissenschaftlich fundiertes anthropologisches Konzept zu gießen. In das Werk fließt über 30-jährige praktische Erfahrung des Autors ein, was die theoretischen Ausführungen sehr bereichert.
Das Buch ist - in Kontrast zum Titel, der ein eher theoretisches Werk vermuten ließe - schwerpunktmäßig praxis- und anwendungsorientiert. Dies macht es zu einer Fundgrube und Inspirationsquelle für ressourcenorientierte Übungen, welche die Selbstannahme, Selbstdistanzierung und die Selbsttranszendenz stärken. Darin liegt eine der Stärken des Buches.
Doch Sylvester Walch liefert auch Theorie. Auf den ersten rund 50 Seiten findet sich ein schöner und informativer Überblick zur Problematik des naturwissenschaftlichen Paradigmas, der „ersten Person Perspektive“, des Erkennens und der Fähigkeit zur Introspektion.
Die Überlegungen sind immer wieder entwicklungspsychologisch untermauert und gut nachvollziehbar.
Neben der Würdigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse stellt Walch immer wieder die intuitiven Aussagen aus unterschiedlichen spirituellen Traditionen.
Ein Problemfeld bei der vorwiegenden Orientierung am naturwissenschaftlichen Paradigma sei, dass wir uns selbst dabei verlören und nicht mehr hörten, was von innen kommt (24). So ist „die Reichweite des inneren Erkennens () immer von seelischen und spirituellen Wachstumsprozessen abhängig“ (30).
Mit diesen spirituellen Wachstumsprozessen sind die Fähigkeiten zu Offenheit, Wertschätzung, Liebe und Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber gemeint. Diese Haltungen könnten Bewusstseinsschranken aufheben und weite innere Räume öffnen. Dadurch würde eine Tiefenschau ermöglicht (Übung 55).
Der Weg geht also ins Innere. Hauptanliegen der transpersonalen Psychologie ist, die Welt als Geschenk der Schöpfung zu sehen, sowie zu einer Balance der Erkenntnis- perspektiven und einer Sensibilisierung für innere Erkenntnisprozesse beizutragen (26).
Auffallend ist Walchs Offenheit mit der kritischen Auseinandersetzung über Sterben und Tod, insbesondere mit Nahtoderfahrungen. Zentral dabei ist die Klarheit im Offenhalten des letzten Horizonts und das Vermeiden ontologischer Festlegungen.
So zitiert Walch den Neurobiologen Gerhard Roth: „Letztlich bedeuten die Befunde nur, dass es offenbar zur psychischen Ausstattung des Menschen gehört, unter bestimmten Bedingungen religiöse, spirituelle oder mystische Erlebnisse zu haben. Daraus folgt weder zwingend, dass solche Erlebnisse irgendeinen realen Bezug haben, noch folgt daraus zwingend, dass der Glaube an Gott oder ein Jenseits reine Illusion ist“ (73).
In der Erfahrung der Todesnähe, des Sterbens sieht die transpersonale Psychologie eine großartige Chance zur Transformation und spirituellem Erwachen.
Es könnte sich eine Tür zum „Wesenskern“ und der Essenz des Daseins auftun. Dabei warnt Walch immer wieder vor vorschnellen und überzogenen Interpretationen, die sich als naiv erweisen. Diese Gratwanderung durchzieht das gesamte Buch. Die Haltung Walchs zu diesen Fragen ist eine phänomenologische, zuerst einmal das anzunehmen wie es geschildert wird, damit läuft er nicht Gefahr, sie zu ignorieren oder ideologisch zu überfrachten.
Trotz dieser existenziell-phänomenologischen Haltung bleibt allerdings ein Unbehagen, etwa bei Prämissen wie „das Bewusstsein kann sich von seiner materiellen Basis lösen“ oder dass „alles zu unserem Besten geschieht“ (77), „alles was geschieht, ist sinnvoll und dient unserer Entwicklung“ (307, 309). Es erinnert zwar entfernt an Frankls Sinnpostulat, aber eben auch an die Kritik dieses Postulats, z.B. durch Jaspers. An solchen Stellen wird das Buch „prophetisch“.
Das folgende Kapitel über das Sterben des Ego bringt einige erhellende Unterscheidungen.
Für Walch ist die Transformation des Ego der Königs- weg der menschlichen Entwicklung. Im existenziellen Sinne ist dies Vergleichbar mit der Freilegung der Person und der Entwicklung von Selbsttranszendenz.
Walch betont, dass ein funktionstüchtiges Ich unbedingt notwendig ist und nicht mit dem Ego verwechselt werden darf.
Leider wird es in der spirituellen Literatur oft synonym verwendet. Er differenziert das Ego in spiritueller Hinsicht vom Ich in psychologischer Hinsicht. „Der spirituelle Weg braucht ein intaktes Ich, denn Menschen mit ausgeprägter Ich-Schwäche haben in der Regel Schwierigkeiten, Veränderungsprozesse mit vorhergehenden labilisierenden Durchgangsstadien zu ertragen ...“ (96).
Im Ego sieht die transpersonale Psychologie ein großes Hindernis in unterschiedlichen Schweregraden. Auch hier sind die angebotenen Übungen hilfreich. Die Ego-Anteile nähren sich aus unintegrierten Schattenaspekten, Eigenschaften die wir ablehnen. Zentrale Wurzel sei das Gefühl der Getrenntheit (112), das die Gewissheit verdrängt, verbunden und eingebettet zu sein.
Immer wieder beschreibt der Autor Beispiele, wie eine solche Transformation auch körperlich-psychisch-geistig erlebt werden kann.
Auch eine kritische Sicht von Spiritualität zeigt sich wenn sich Ego-Aspekte spirituell tarnen und so munter fortbestehen.
Sehr interessant ist seine Differenzierung von Ego-Tod Erleben und Phänomenen der Depersonalisierung und Psychosen (161). Hier gibt der Autor klare und sehr hilfreiche Unterscheidungskriterien an. Eine Fülle von Übungen zur Ego-Transformation, Erstellung eines Ego-Profils, Umgang mit destruktiven Gefühlen, Abbau von Überidentifikationen, Vergebung, usw.. rundet das Kapitel ab.
Das zentrale Kapitel über das Selbst macht deutlich, dass für Walch das Selbst - als Ziel der Transformation - durch Dialogfähigkeit, Beziehungsfähigkeit, Wirkzentrum, „Mitte der Person“ und durch Orientierung an der inneren Stimme/Weisheit gekennzeichnet ist.
Wieder ergänzen entwicklungspsychologische Anmerkungen zur Entstehung des Selbst die Ausführungen. Sehr lesenswert sind auch die Exkurse zu Beschädigungen des Selbst anhand von Schizophrenie und Borderline-Erkrankung in diesem Kontext.
Von dort her beleuchtet Walch das befreite Selbst, die Selbstaktualisierung, den Willen, sowie die Intention und die innere Stimme. Dieses Selbst stellt er in Verbindung mit der Vorstellung eines universalen Selbst, einer umgreifenden Seinsdimension, die gedanklich nicht mehr zu fassen ist, aber vielfach bezeugt wird.
Wieder werden unterschiedliche spirituelle Meisterinnen zitiert und Seminarteilnehmer kommen zu Wort. Das personale Selbst ist in diesem Konzept dabei im universalen Selbst in zweifacher Hinsicht aufgehoben: Es ist in ihm beherbergt und hat sich zugleich überschritten (224). An solchen Stellen zeigt sich manchmal auch ein Pathos, der etwas befremdend wirkt.
All das ist ein ständiger Übungsweg. Ergänzt wird das bisher ausgeführte aus energetischer Perspektive im Abschnitt über die Erweckung der Kundalini. Hier wird die Erfahrung des Autors zu einer Quelle des Verstehens. So zeigt sich die Transformation bis in die Schwingungsebenen des Leibes hinein und die Chakrentheorie zeigt relevante Entwicklungsschwellen.
Dabei rät der Autor wiederum, das Chakrensystem nicht zu eng zu interpretieren, sondern mehr als nichtlokale Entsprechungen signifikanter Durchgangsstadien zu begreifen (239).
Abschließend wird der Weg zur Ganzheit reflektiert und auf den Begriff der psychospirituellen Begleitung gebracht. Das Verhältnis von Psychotherapie und Spiritualität wird weiter differenziert, sowie das Meister-Schüler Verhältnis beleuchtet und nochmals auf die Bedeutung der Integration des Schattens hingewiesen.
Zentraler Punkt ist - auch in Erinnerung an den Kongress in Lindau - dass jede Art von Heilung in der Verbindung mit dem universalen Selbst entsteht. An dieser Stelle treffen sich existenzanalytische Annahmen (alle Heilung kommt aus einer spirituellen Dimension, Längle A 2011) mit der transpersonalen Psychologie.
Eine gelebte Spiritualität (Ego-Transformation) zeigt sich vor allem in einem achtsamen, wertschätzenden und liebevollen Umgang mit sich und der Welt und eröffnet eine „Mystik des Lebens“ (307).
Zusammenfassung:
Hier liegt ein durchdachtes und engagiertes Werk vor, das sich der Verbindung von Psychotherapie und spirituellem Weg widmet. Es ist ansprechend geschrieben und aufgrund der eingewobenen praktischen Übungen wird die zum Teil abstrakte und aus unterschiedlichsten Kulturkreisen stammende Theorie gut nachvollziehbar.
Natürlich hat ein solch ambitioniertes Unternehmen - ein integrativer kulturübergreifender anthropologischer Entwurf eines spirituellen Menschenbildes - mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen, die in der Sache selbst liegen.
So ziehen sich begriffliche Probleme durch das gesamte Buch. Begriffe wie „Wesenskern“ oder „Wesensnatur“ kommen aus essentialistischen Traditionen und sind mit einem Berg von theoretischen Schwierigkeiten behaftet. Diesen Schwierigkeiten begegnet der Autor in einer sehr klaren, anerkennenden und intellektuell redlichen Weise ohne sie zu verschweigen.
Neben dem starken Engagement wird wohltuend die selbstkritische Haltung des Autors deutlich, vor allem an den Stellen, an denen er auf die Notwendigkeit intakter Ich- Strukturen und gut verankerter Personalität verweist, die erst ein heilsames Sich-Einlassen auf veränderte Bewusstseinszustände und spirituelle Übungen möglich machen.
Hier bemerkt man die Korrektur früherer, allzu optimistischer Annahmen im Rahmen der transpersonalen Ansätze sowie der Antipsychiatrie-Bewegung. Die Kontrastierung spiritueller Erfahrungen durch psychodynamische Perspektiven und Bewusstseinsentwicklung sind anregend, erhellend und erleichtern das Verstehen.
Ungeachtet davon, ob man mit den Hauptprämissen des Autors übereinstimmt, bietet das Buch eine Fülle von meditativen Übungen, die sich als sehr nützlich erweisen.
Ebenso hilfreich sind die vielen konkreten Fallvignetten, in welchen die praktische Erfahrung des Autors spürbar wird.
Zusammenfassend dürfte das Buch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und für spirituell interessierte Menschen sehr lesenswert sein, gerade weil es einen Blick über den Tellerrand üblicher klinischer Perspektiven bietet.
Markus Angermayr
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch