Sehnsucht und Sehnen
von Gerd Bodhi Ziegler -
Wenn ich mit einer Gruppe zusammensitze und in der täglichen Einstimmung diesen Raum von Selbstkontakt, Ausdehnung und Weite öffne, sind TeilnehmerInnen oft so berührt, dass Tränen zu fließen beginnen. Wenn danach das eigene Erleben mitgeteilt wird, zeigen viele sich mit ihrer Sehnsucht nach dem wahren Zuhause und dem Schmerz darüber, so oft und so lange davon entfernt gelebt zu haben. Sie zeigen sich mit ihrer Suche nach Glück und Erfüllung, die manchmal so mühevoll und aussichtslos zu sein scheint.
Mich berührt jedes Mal die Echtheit und Intensität dieser inneren Kraft, mit der sich Menschen zeigen. Dies zu sehen und mit ihnen zu erleben, ist so kostbar, heilsam und befreiend. Indem ich sie weiter in einen noch tieferen Selbstkontakt führe, erleben sie erstaunlich schnell eine vollständige Erfüllung ihres Sehnens.
Da ist nichts mehr zu finden, was ihnen in diesem Moment noch fehlt. Ebenso wenig können dann irgendwelche Begrenzungen erlebt werden. Dies sind immer wieder heilige Momente, deren Wirklichkeit den ganzen Raum erfüllt und für alle Anwesenden deutlich spürbar und mühelos erfahrbar ist.
Sobald wir unser Zuhause selbst realisieren, erscheinen Wollen, Brauchen, Suchen und Verlangen völlig bedeutungslos. Sie lösen sich auf, ohne dass wir etwas loswerden wollen, weil die Wahrheit des gegenwärtigen Moments alles mit tiefem Sinn, echter Demut, überwältigendem Frieden und großer Freude erfüllt. Tiefes Entspannen und Loslassen wird zu einem Fest grenzenloser Erlösung und Lebendigkeit.
Bevor sich dies einstellt, vollziehe ich einige wenige Schritte der Selbstbegegnung. Der Körper zeigt meist klar und direkt, wo sich die Anspannung, der Druck oder die Enge nicht erfüllter Sehnsucht befindet. In dem wir genau das willkommen heißen, sanft hinein atmen und es bereitwillig fühlen, entsteht Raum für die Wahrheit dieses Erlebens. Das Nichterfüllte kann sich oft als dunkles Loch, als schier unerträglicher Mangel oder als gähnende, kalte Leere zeigen.
In der Regel ist es schwer, diesen Mangellöchern allein und ganz präsent zu begegnen. Doch das bedingungslos bejahende Energiefeld einer Gruppe ist erstaunlich tragend und unterstützend. Wenn Schmerz, Schuld, Angst oder Mangel sich als Leere zeigen, stehen wir an der Schwelle zu etwas ganz Neuem.
Die Geburt einer neuen und doch gleichzeitig uralt-vertrauten Wirklichkeit setzt ein, wenn diese Leere genauso willkommen ist wie zuvor die Anspannung, der Druck oder die Enge, genauso wie zuvor Schmerz oder Mangel.
Wenn wir uns an dieser Stelle nicht mehr einmischen mit Urteilen, Konzepten oder Erklärungen, wenn wir einige Atemzüge lang bereit sind, gar nichts zu tun, also auch keine Trennung aufrecht erhalten, setzt von selbst eine natürliche Ausdehnung ein. Diese einfach geschehen zu lassen, kann wie ein freies, schwereloses Fallen oder Sinken erlebt werden oder auch als vollständiges Getragensein in grenzenloser Weite. Wir erleben die Essenz unseres grenzenlosen Seins als eine Frequenz des Heiligen. Sie ist das Wesen von allem, was ist.
Die eigene Erfahrung dieser Wirklichkeit verwandelt uns zutiefst. In ihr geschehen wahre Heilung und Befreiung. Und jedes Thema, mit dem wir in diese Innenschau eingetreten sind, kann nun klar gesehen und bewusst durchleuchtet werden.
Wir erkennen in neuer Klarheit, wie Leiden entsteht in den Lebensbereichen, in denen wir durch Schicksalsschläge oder Herausforderungen unseren Selbstkontakt verlieren, wo Verstrickung und Anhaftung uns unfrei machen oder wo unerfülltes Leben schmerzhaft an uns nagt.
Wir erkennen, wie schmerzhafte Sehnsucht aus einem Erleben oder Glauben an Mangel in uns entsteht. Und genau diese leidvolle Intensität kann zu der Kraft des Sehnens werden. Wenn sie sich in Mut zur Selbstbegegnung wandelt, führt sie uns Schritt für Schritt nach innen in einen Raum unseres Seins voller Schönheit, Größe und Glückseligkeit. Sehnsucht ist Leiden in der Erfahrung der Trennung. Sie ist eine Wunde voller Mangel und Ohnmacht.
Und auch hier, wie hinter jeder tiefen Verletzung, wartet ein noch größeres, umfassenderes Potenzial an Liebe, Kraft und Glück.
Wird Sehnsucht ganz gefühlt und angenommen, verwandelt sie sich durch Gnade in die heilige Kraft des Sehnens. Sehnen erlebe ich als eine göttliche Intensität in mir. Sie ist wie eine bewegende Kraft, die mein Leben in eine Reise voller Entwicklung und Wachstum verwandelt. Sie war schon immer da und wird immer präsent sein, weil Erwachen, Verwandlung und Befreiung mich endlos weiter bewegen und führen. Bekommt das heilige Sehnen in mir Raum, gibt es nichts was fehlt.
Im Fallen nach innen, im Loslassen, das sich weiter vertieft, setzt das Erleben eines von Liebe erfüllten Getragenseins ein.
Herzlichst
Gerd Bodhi Ziegler
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