Seelische und spirituelle Prozesse - Das Selbst als Wesenskern und Innere Weisheit.
von Dr. Sylvester Walch -
Durchbruch zum Menschsein - Das Selbst als Wesenskern und Innere Weisheit.
Erlauben Sie mir dazu, kurz eine persönliche Geschichte zu erzählen: Als ich vor einigen Jahren von einem Seminar nach Hause fuhr, überkam mich eine große Müdigkeit und innere Unruhe. In den zurückliegenden Monaten hatte ich viele Seminar- und Vortragsreisen hinter mich gebracht. Plötzlich merkte ich, wie ich mir in dieser Zeit selber fremd geworden bin. Blockiert, ausgelaugt und überlastet, ohne Zugang zu meiner inneren Quelle.
Ich fühlte mich in meiner Haut nicht mehr wohl, hatte keine Lust mehr zu denken und sehnte mich nach einem ganz einfachen Leben. Ein Schatten legte sich über mein Gemüt. Ich verlor das Vertrauen in meine Ressourcen und fragte mich: Wie viel Kraft habe ich noch? Wie lange werde ich noch leben? Auch hatte ich keine Energie mehr, meine spirituelle Übungsdisziplin aufrechtzuerhalten.
Es erfasste mich eine große Sehnsucht, mich wieder auf das wirklich Wesentliche zu besinnen. Bald darauf entschloss ich mich, ein Meditationsretreat zu besuchen. Dort war alles für den „Weg nach innen“ vorbereitet. Doch, was passierte. Als ich am Abend ankam, hatte ich heftige Zahnschmerzen, blieb im Zimmer und konnte die Abendveranstaltung nicht besuchen.
Mir war elend zumute. Ich schlief frühzeitig ein, die Zahnschmerzen verschwanden allmählich und ich fühlte mich am Morgen überraschend gut. Mit mir war etwas passiert. Ich ging in den Meditationsraum, setzte mich nieder und lauschte einem Mantra. Dabei folgte ich meinem Atem und ließ ihn freier und tiefer werden.
Die Gedanken wurden stiller und meine inneren Räume weiteten sich. Ich fühlte mich von etwas Größerem getragen, frei von Belastungen und liebevoll mit der Welt verbunden. Alles fand zu einem Rhythmus, zu einer Schwingung, zu einem Gleichklang.
Mir wurde unverhofft zuteil, was Toshihiko Izutsu (1984, S. 32), ein japanischer Phänomenologe und Kenner des Zen Buddhismus, als eine von begrenzenden Wahrnehmungsrastern befreite Realitätserfahrung beschreibt:
„… alle Dinge sind wesenlos, vollständig frei. Sie sind füreinander offen, unendlich durchscheinend …“
Es war ein mühevoller Weg, aber nur ein ganz kleiner Schritt: Einfach innehalten, etwas tiefer atmen, und die Öffnung nach innen geschehen lassen.
Halte inne und höre, was aus der Stille Deines Wesens kommt, das ist die Botschaft vieler spiritueller Lehrer, denn der Mensch kann trotz der fundamentalen Erfahrung seines „Geworfenseins“, trotz der unberechenbaren Wirren des Schicksals stets auf etwas vertrauen, das ihn trägt: Sein Innerstes!
Es gibt einen Begriff, der sowohl in der Psychologie wie auch in der spirituellen Literatur für dieses Zentrum steht: das Selbst. Es ist sehr persönlich (personal) und gleichzeitig scheint es uns über die individuellen Strukturen hinauszuheben (universell). Für Swami Muktananda (1987), der sich auf die Upanischaden stützt, ist es „kleiner als das Kleinste und größer als das Größte“.
Die Psychologie des personalen Selbst ist für die Psychotherapie von hoher Bedeutung. Davon kann ich hier nur einige wenige, für meine weitere Untersuchung aber wesentliche Punkte berücksichtigen. Zur Vertiefung dieser Thematik möchte ich auf Petzolds Ausführungen zum „Leibselbst“ (vgl. 1973) sowie Sterns (vgl. 1992) detaillierte Forschungen zur Entstehung des Selbst verweisen.
Nach allgemeiner Überzeugung unterschiedlicher psychologischer Richtungen, steht das Selbst einerseits für den Gesamtumfang der Person, also alles, was ich als zu mir gehörig wahrnehme, und andererseits für den wesenhaften Kern, also das, was den Menschen im Innersten zusammenhält.
Es gibt dem Individuum, durch seine beständigen Integrationsleistungen, die Sicherheit, bei allen Veränderungen, die es erfährt, gestern, heute, morgen das Gleiche zu sein, also eine unveränderte Subjektivität zu verkörpern. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn durch sichere Bindungserfahrungen in der Kindheit, gute und stabile innere Strukturen aufgebaut wurden.
Die klinische Psychotherapie weiß, dass schwere psychische Störungen oft auf ein verletztes personales Selbst zurückgehen. Wer etwa von seinen Eltern ständig abgewertet wurde, wird vielleicht mit tiefen Ängsten konfrontiert, wenn er Entscheidungen trifft oder seinen eigenen Weg gehen will. Durch frühe Erfahrungen von Gewalt, basale Defizite von Geborgenheit oder chronische Konflikte in der Familie zieht sich das entstehende Selbst zusammen und erzeugt eine vor der bedrohlichen Welt schützende Fassade, eine Scheinpersönlichkeit, hinter die es sich zurückziehen kann.
Der innere Boden wird dabei als brüchig und instabil empfunden, sodass man auch in sich selbst keinen Halt finden kann.
Davon betroffene Menschen erfahren sich als vom Leben abgeschnitten, innerlich leer und doch von ständiger Sorge und Angst umgetrieben. Deshalb ist die Fähigkeit, Liebe zu erfahren und zu vermitteln, verkümmert, was den Zustand weiter verschlimmert.
Die Heilung eines in seinen Grundfesten erschütterten Menschen vollzieht sich, wie wir wissen, nur in kleinen Schritten. Ziel ist das gesunde Selbst. Es sorgt, wie es Karen Horney (1975, S.176) schön beschreibt, „…für das pulsende innere Leben; …es ist jener Teil in uns, der sich ausdehnen, wachsen und selbst erfüllen will ...“
Erst das von pathologischen Belastungen befreite Selbst vermag jene Kräfte zu mobilisieren, die die persönliche Entwicklung vorantreiben und zur kreativen Auseinandersetzung mit den Lebensumständen befähigen. Es macht sich im Alltag als wegweisende innere Stimme, als Bauchgefühl bemerkbar. Auch befördert es jenes stabile Selbstvertrauen, das das Zutrauen zu anderen Menschen und damit die Verankerung im wirklichen Leben erst ermöglicht.
Mit dieser Öffnung zur Mitwelt erweitert und vertieft sich auch der Raum der inneren Erfahrung. So werden wir auch durchlässiger für das größere Ganze oder das „Mehr“ in uns.
Nicht zuletzt eröffnen sich dadurch auch Zugänge zu Ressourcen und Wirklichkeitsbereiche, die den begrenzten Rahmen der individuellen Persönlichkeit weit übersteigen.
Gerade deshalb versuchen spirituelle Traditionen, wie auch die transpersonale Psychologie, das Selbst noch in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Es sei also nicht, wie die klassische Psychologie nahelegt, allein auf die Persönlichkeit bezogen, sondern - auch offen zum Überpersönlichen hin, daher die Bezeichnung transpersonal.
Leibniz spricht von einem „Funken des Kosmos“, der uns innewohnt und mit dem Seinsganzen verbindet. Im Wesenskern des Menschen wirkt also eine Kraft, die weit über die Person hinausgeht. Sie stellt die Beziehung zu einer kosmischen Dynamik her, die nach C.G. Jung auch als „Gott in uns“ (C.G. Jung, 1971, S. 134f) bezeichnet werden kann:
„Dieses Etwas ist uns fremd und doch so nah, ganz uns selber und uns doch unerkennbar, ein virtueller Mittelpunkt von … geheimnisvoller Konstitution, ...Ich habe diesen Mittelpunkt als das Selbst bezeichnet … (Es) könnte ebenso wohl als ‘Gott in uns’ bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkt zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen.“
Das personale Selbst ist im transpersonalen Selbst aufgehoben, in einem doppelten Sinne, sowohl eingebettet als auch überschritten. Über das transpersonale Selbst kommuniziert das Individuum mit der Totalität des All-Einen. Der deutsche Mystiker Meister Eckehart (s. Literaturverzeichnis, k. J., k. S.) drückt dies in einer einfachen Sentenz aus: „Ich will sitzen und will schweigen und will hören, was Gott in mir rede.“
Ein Bewusstsein dieser Verbindung hat sich in der Mystik aller großen religiösen Traditionen bewahrt.
Im Christentum heißt es: „Das Reich Gottes ist in Dir“, im Buddhismus: „Schau nach innen, Du bist der Buddha“, im Siddha-Yoga: „Gott wohnt in Dir als Du“, im Hinduismus: „Atman (das individuelle Bewusstsein) und Brahman (das universelle Bewusstsein) sind eins“, im Islam „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.
David Steindl-Rast (vgl. 2012) sieht in dieser transkulturellen religiösen Grunderfahrung die Wurzel jeglicher spirituellen Praxis. Für ihn ist das Selbst ein unerschöpflicher Wesensgrund, der in jedem von uns und in allem existiert.
Spirituelle Wege empfehlen uns für ein segensreiches Leben, diesem Größeren in uns mehr Raum zu geben.
Die stille Meditation ist dafür eine einfache Übung, die Millionen von Menschen praktizieren, denn die nach Kulturtraditionen je unterschiedlichen spirituellen Wege sind sich in folgendem Punkt einig: Wenn wir erkennen wollen, wer wir wirklich sind, müssen wir beginnen, unsere Gedankenwelt ruhiger werden zu lassen, um tiefer nach innen spüren zu können.
Das ist aber nur möglich, wenn wir das, was sich in uns zeigt, nicht ergreifen oder dem weiter nachgehen, sondern einfach nur geschehen lassen. Es kommt also darauf an, das, was uns 24 Stunden am Tage beschäftigt, weder zu kommentieren noch zu bewerten, sondern einfach sein zu lassen. Das ist gar nicht so einfach, denn wer bin dann eigentlich noch, wenn ich vieles, dem ich sonst Bedeutung beimesse, loslasse.
Wer zu meditieren beginnt, wird freilich in der Anfangszeit auf größere Schwierigkeiten stoßen. Das freischwebende Hineinhören in die Stille kann durch die Unstrukturiertheit zu erhöhten körperlichen Spannungen wie zu einem verstärkten Gedankenfluss führen.
Gerade dann, wenn wir ruhig werden wollen, wird es zunächst lauter. Das ist normal, denn wenn wir innehalten, beginnen wir erst zu hören, wie viele Geräusche in uns sind. Es ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass die Sinne wach werden. Meditation führt generell zu mehr Wahrnehmungssensibilität, Klarheit und Verbundenheit.
Wenn man nun die inneren Abläufe weder kommentiert noch bewertet, sie also einfach nur sein lässt, kann sich der Geist sammeln und tief in das Innerste seines Wesens versenken.
Durch das Zurücktreten des identifizierenden Bewusstseins und der Zentrierung auf den gegenwärtigen Augenblick bemerken wir vielleicht auch, dass etwaige Sorgen, Pläne oder Frustrationen, mit denen wir uns sonst intensiv beschäftigen würden, ein wenig in den Hintergrund treten. Da unser Fokus dann nicht mehr auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, kann unser Bewusstsein beweglicher, weiter und offener werden.
Wenn im unmittelbaren Gewahrsein alles so erscheint, wie es ist, dann können die endlichen Dinge aus einer transzendenten Perspektive in ihrer Transparenz und Verbundenheit wahrgenommen werden.
Rumi sagt: „Hinter den Gedanken liegt ein Feld. Möchtest Du mich dort treffen?“
Er verweist auf das vom Vorstellen und Denken unberührte Sein, das sich durch Gewähren lassen entbirgt. Alles darf so sein, wie es ist und wir fühlen uns vollkommen in der Ordnung, eingebettet in das Ganze, tief verbunden mit dem Leben und der Mitwelt.
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Sylvester Walch verfügt über eine langjährige Meditationspraxis und entwickelte einen kulturübergreifenden spirituellen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Praxis verbunden werden.
Er ist Gesamtleiter des Weiterbildungscurriculums „Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen“.