Selbstverwirklichung und Holotropes Atmen
- Teil 8 -
von Dr. Sylvester Walch -
4. Erfahrungsebenen der Selbstverwirklichung im Holotropen Atmen.
Anhand der Erfahrungsebenen „Seelische Integration“, „Durchbruch zum transpersonalen Wesen“ und „spirituelle Dimensionen“ werde ich nun beispielhaft aufzeigen, was Seminarteilnehmer mit Hilfe von veränderten Bewusstseinszuständen erleben und für ihren Selbstverwirklichungsprozess fruchtbar machen können.
4.1.1 Seelische Integration
Das holotrope Atmen ist dafür prädestiniert, seelische Konflikte zu lösen und gesündere innere Strukturen aufzubauen. Da durch die Hyperventilation die Inhalte des individuellen wie kollektiven Unbewussten stark mobilisiert werden, kommt der Erfahrende unmittelbar mit abgespaltenen und angstbesetztem psychischem Material in Kontakt.
Wenn zum Beispiel jemand in früher Kindheit geschlagen wurde, erlebt er sich hautnah in dieser Bedrohungssituation, spürt lähmende Ängste und zittert vielleicht am ganzen Leib. Es werden dabei jedoch nicht nur die erlebten Gefühle wie Panik, Ohnmacht, Schmerz und Traurigkeit direkt spürbar, sondern es können auch die damals nicht ausgedrückten Impulse, wie zum Beispiel heftige Wut, zum Vorschein kommen und ausgelebt werden. Dadurch kann das Gefühl der Ohnmacht überwunden und die verdrängte Kraft wahrgenommen werden.
Dazu die Erfahrung eines Seminarteilnehmers:
„ …Ich sah meinen Vater, wie er sich über mich bückte, der ich als etwa 2 jähriger schlafend in meinem Bettchen lag, und mich wach prügelte. Ich fühlte ohnmächtige Wut und konnte auch einen Gutteil davon wüst schreiend ausagieren; wieder sehr erschöpft ruhte ich mich noch etwas aus.... Bei der Trommelmusik erlebte ich mich… als kraftstrotzend und energiegeladen…“
Seelische Schädigungen, die in der Regel durch Übergriffe, Defizite von Geborgenheit oder chronische Konflikte in der Familie verursacht werden, hinterlassen auch im Körper gravierende Spuren, meistens in Form von tiefsitzenden Kontraktionen oder Verspannungen, die im Alltagsbewusstsein meist nur diffus wahrgenommen werden.
Durch das holotrope Atmen werden sie jedoch so belebt, dass sie, zusammen mit den belastenden Szenen, von der Peripherie des Unbewussten in das Bewusstsein drängen. Wenn nun der Erfahrende dieses innere Geschehen zulässt und die sich anbahnenden Impulse ausdrückt, wird gebundene Energie frei, die sonst dazu gebraucht wird, dissoziierte Anteile vom Bewusstsein fernzuhalten.
Dadurch wird das psychische Gesamtsystem grundsätzlich entlastet und gleichzeitig kommt es zu intensiven inneren Prozessen, die sogar auf subkortikale Hirnregionen wirken. Um tief verankerte problematische Fühl-Denkschemata zu verändern, bedarf es eines inneren Aufruhrs, weil kognitive Einsichten alleine dazu nicht ausreichen.
Deshalb unterstützen die Begleiter ein vollständiges „Hindurchgehen“ und „Ausdrücken“: Entweder durch Festhalten und Gegendruck, um die Spannung zu erhöhen, bis es zu einer vollkommenen Entladung kommt, oder durch nährende und emotional korrigierende Erfahrungen, wie etwa wärmende oder abschmelzende Berührungen bis hin zu einem bergenden Ganzkörperkontakt.
Dadurch können auch chronische Defizite von Wärme, Geborgenheit und Liebe im Sinne von Erholungsregressionen sehr gut ausgeglichen werden, um wieder Urvertrauen, Daseins- und Selbstgewissheit zu gewinnen.
Wenn sich die Erfahrung in ihrem tiefsten Grund zeigen darf, kann eine wunderbare Wandlung eintreten. Der sich allmählich entspannende Körper wird von pulsierenden Energien durchströmt, das Herz weitet sich und der Atem wird tief. Der Erfahrende erlebt sich liebevoll und friedlich. In diesem Prozess können tief greifende Verletzungen heilen und aus destruktiven leibseelischen Dispositionen heilswirksame Gestalten entstehen.
Deshalb auch die Ermutigung an die Seminarteilnehmer: Lasse alles zu und gehe tiefer in das hinein, was sich zeigen möchte.
(Die mögliche Kritik einer sekundären Traumatisierung trifft m.E. deshalb nicht zu, da die Gesamtsituation einen verlässlichen, sicheren, ausdrucksfördernden und liebevoll gestalteten Rahmen bietet.
Zudem öffnet das holotrope Atmen die Ressourcenspeicher und aktiviert die Selbstheilungskräfte, sodass dissoziierte Fremdkörper der Seele als narrative Lebensskripte leichter integriert werden können. Das heißt, dass die Ansammlung einzelner, unverbundener Sinneswahrnehmungen (Gesehenes, Gefühltes, Getanes, Gehörtes, Gerochenes), wie sie normalerweise fragmentarisch im Traumagedächtnis gespeichert wurden, zu einer sinnvoll zusammenhängenden Geschichte gefügt werden können.
Dies ist für die Bewältigung eines Traumas außerordentlich wichtig, weil erst dadurch das schreckliche Erlebnis der Vergangenheit übergeben werden kann und somit seine mythische Macht verliert.)
Seelische Integrationsprozesse beziehen sich auf die gesamte Lebensspanne, bis zurück zur Zeugung.
So ist beispielsweise die Geburt ein hochbedeutsamer Wendepunkt in der menschlichen Entwicklung, ein Ereignisablauf, der durch seine leiblich-sinnliche und bildhaft-symbolische Dramaturgie wichtige Hinweise auf sich wiederholende Lebensmuster geben kann. Stanislav Grof wird uns die Dynamik der perinatalen Matrizen am Sonntag ausführlich erklären. (Deshalb lassen Sie mich hier nur eine verkürzte Sequenz aus meiner eigenen Geburtserfahrung erzählen, weil ich dadurch mein Lebensmuster „stets ums Überleben kämpfen zu müssen“ ablegen konnte.
„ Plötzlich spürte ich eine starke Enge, als würde von allen Seiten auf meinen Körper gedrückt. Ich fing an, gegen diesen Druck anzukämpfen. Ich entwickelte solche Kräfte, dass ich von fünf Personen gehalten werden musste. Niemals wäre ich bereit gewesen, aufzugeben. Meine heftigen Bewegungen und lauten Schreie erreichten einen Höhepunkt und ließen dann nach. Mein ganzer Körper entspannte sich und ich wollte mich aufsetzen. Als Stan mir sagte, es sei noch zu früh, schoss mir folgender Gedanke durch den Kopf: »Ich bin eine Frühgeburt!
Ich legte mich wieder hin und wurde zugedeckt. Ich konnte vollkommen loslassen und es fühlte sich äußerst angenehm an, so als würde ich die vier Wochen, die ich zu früh auf die Welt kam, jetzt nachholen. Plötzlich roch es intensiv nach frischem Leder. Diese starke Empfindung war höchst erstaunlich und ich wusste nichts damit anzufangen. Später, als wir uns in der Gruppe unsere Erlebnisse erzählten, fragte ich Stan, womit dieser Ledergeruch zusammenhängen könnte.
Er erwiderte mir, er könne das nicht symbolisch deuten. Meine Wahrnehmung müsse vielmehr mit den tatsächlichen Gegebenheiten während der Entbindung zu tun haben. Noch am Abend rief ich meine Mutter an und fand heraus, dass sie am Tag meiner Geburt Lederhosen genäht hatte, weil der prognostizierte Geburtstermin ja einige Wochen später war. Als das Fruchtwasser schon abfloss, glaubte sie noch, dass dies wohl mit einer Blasenschwäche zusammenhänge.“)
Werfen wir noch einen Blick auf die vorgeburtliche Zeit. Die einzelnen Entwicklungsschritte im Mutterleib sind so einzigartig, dass es einem Wunder gleichkommt. Wenn wir uns nur vorstellen, dass nach drei Wochen das Herz zu schlagen beginnt und nach acht Wochen sämtliche inneren und äußeren Organe angelegt sind. Dies ist wiederum nicht nur ein rein physiologischer Prozess, sondern auch ein seelischer.
Ein Teilnehmer erlebte in dramatischer Weise seine eigene Herzbildung mit. Danach fühlte er sich von freifließender Liebe überschwemmt. Aber auch schwerwiegende negative Erlebnisse, etwa ein Tritt in den Bauch der Mutter während der Schwangerschaft, können erinnert und im geschützten Rahmen der Sitzung heilsam integriert werden. Ein Erfahrender berichtete auch, dass er seine eigene Zeugung miterleben durfte und danach sein Schicksal besser annehmen konnte.
Die seelische Integration, die in keiner Lebensphase vernachlässigt werden sollte, führt uns zu einem gesunden Identitätserleben, in dem folgende Grundüberzeugungen als natürlich erfahren werden: Ja, ich bin willkommen; Ja, ich bin wertvoll; Ja, ich bin geliebt; Ja, ich werde gebraucht.
Nächste Woche geht es weiter mit dem Thema "4.1.2 Transpersonale Transformation – Durchbruch zum Wesen"
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch