Heute stelle ich klar und deutlich eine Forderung.
Ich fordere: Zwangsverglückung für alle!
Ja, ich bin es leid, dass so viele leiden. Und das nicht etwa aus purem Mitgefühl. Nein, ganz ehrlich: Es ist einfach für mich eine Zumutung, dass da noch so viele unzufriedene Menschen rumlaufen! Viel zu viele, die Unzufriedenheit ausstrahlen, weil sie da, wo sie sind, nicht glücklich sind. Das stört mich in meiner eigenen Zufriedenheit. Ja, so schaut’s aus! Da wollen wir uns hier, Sie und ich, mal gar nichts vormachen.
Letztes Wochenende zum Beispiel. Ich, in meinem Glück wie so üblich dahinfließend, landete in einem süßen, kleinen, zauberhaften Hotel am Gardasee. Ich hätte schwören können, der Name auf dem Wegweiserschild wäre „Hotel Eden“ gewesen (war es aber nicht; war es aber doch). Jedenfalls dem nicht genug, dass am Samstag das Wetter wie aus dem Bilderbuch war. Nein, am Frühstückstisch stand vor mir plötzlich ein kleiner, verschrumpelter Mann in bestem Kellneroutfit - mit Fliege sogar! Ich fühlte mich für einen Moment wie Miss Sophie. Jedenfalls lächelte er freundlich mit gezücktem Block und Bleistift und fragte in aller Ruhe und Sorgfalt ab: „Möchten Sie Saft? Möchten Sie Ei? Spiegel-, Rührei oder gekocht? Möchten Sie Aufschnitt oder Käse? Joghurt, natur? Obst?“ Eines nach dem anderen wurde genannt, während er eifrig Notizen machte. Das Ganze gekrönt mit einer Prise italienischem Akzent (er war so zuvorkommend, nachdem er merkte, dass mein Italienisch allein für ein Dschungelcamp reichen würde). Dann entschritt er wieder, mich mit dem Gefühl zurücklassend, ich sei eine Königin. Was für ein Start in einen perfekten Tag! Als er servierte, schien es, als gäbe es für ihn keine größere Freude, als mir das Frühstück meiner royalen Wahl zu servieren. Leicht gebückt, wie Kellner der alten Schule das so machen. Ein Mann, der wahrlich seine Berufung gefunden hatte und dem ich vor Verzückung am liebsten für sein Tun applaudiert hätte.
Der nächste Morgen. Vorfreudig begab ich mich in den Frühstücksraum. Dort sah ich ihn auch schon flitzen, meinen kleinen italienischen James. Allerdings sollte nicht er es sein, der mir an diesem Tag den Morgen versüßen würde. Nein, es kümmerte sich um andere Tische. Dafür baute sich ein großer, breitschultriger Mann mit Brille und etwas Bauch vor meinem Tischchen auf. „Kaffee oder Tee?“ Er fackelte nicht lange. Zu viel Zeitverschwendung, ein „Guten Morgen, Signora!“ zu hauchen, wie es schien. Während er schon den Tisch verließ, murmelte er noch so nebenbei: „Aufschnitt? Ach, komme gleich wieder.“ Kaffee kam. Sonst nichts. Kein entzückt-gezückter Block, keine liebevolle Abfrage all der möglichen Möglichkeiten. Es war scheinbar meine Aufgabe, mich als Gast hier zu Wort zu melden und mich darum zu kümmern, dass was Essbares auf den Tisch kam. Schließlich winkte ich ihn heran. Die Bestellung endete darin, dass ich eine Nachfrage stellen musste. Woraufhin er offenkundig genervt war. Schließlich erwiderte er, eher patzig, dass ich ihm einfach sagen sollte, was ich wolle, dann würde er es mir schon bringen. Man traute sich kaum noch, dem Herren was mitzuteilen. Als Gast schien man sein personifizierter Albtraum zu sein. Konnten denn nicht einfach alle pauschal das essen, was auf den Tisch kam, herrje?
Deutlicher hätte man es kaum machen können. So sah das also aus, wenn ein Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Tätigkeit war. Oder eben auch nicht. Während mein kleiner, schrumpeliger, süßer James (der vermutlich eher Giovanotti hieß) das tat, was er konnte und offenkundig gerne tat, vermutlich schon seit 50 Jahren, stand am Sonntag ein Mann vor mir, der zweifelsfrei sehr große Fähigkeiten hatte, die aber in einem ganz anderen Bereich lagen. Vor mir stand gefühlt eine Führungskraft. Ein Mann, dem ich sofort Personalverantwortung gegeben hätte in einem Männerbetrieb. Ein Abteilungsleiter, der dazu befähigt wäre, in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen. Vielleicht nicht gerade die Art Kuschelvorgesetzter, aber absolut tatkräftig und in der Lage, Entscheidungen zu fällen, hier, jetzt. Das wird an vielen Stellen gebraucht. Nur irgendwie nicht wirklich in einem kleinen Familienbetrieb am See. Zumindest nicht im Gastraum.
Zwei Männer. Einer total richtig, wo er war. Der andere: völlig falsch. Und das spürte er. Und darunter litt er, ganz bestimmt. Denn er sah nach viel aus, aber nicht nach Glücklichsein. Meine Fantasie war entfacht und ich sah die Führungskraft, die er in Wahrheit war; den unglückliche Umstände (falls es sowas gibt) dazu gezwungen hatten, bei seinem Cousin im Hotel zu kellnern, um seine Frau und seine kleine Tochter zu ernähren. Der das alles tat, aus Pflichtbewusstsein, und den es gleichzeitig innerlich aggressiv machte, die ganzen Urlauber zu bedienen, dieses faule Pack! Natürlich weiß ich nicht, ob meine Geschichten stimmten, die ich mir zurecht legte.
Eines daran aber war erkennbar:
Eine Arbeit zu verrichten, die man selbst nicht liebt und eigentlich auch nicht tun will (die man also nur des Geldes wegen macht), macht mehr als nur einen Menschen nicht glücklich.
Ich als Gast wäre viel glücklicher gewesen, wenn auch am Sonntag der liebe James mich bedient hätte. Weil es schön ist, von jemandem bedient zu werden, der gerne dient. Weil es mein eigenes Herz zum Singen bringt, wenn vor mir jemand steht, dessen Herz singt, weil er da, wo er ist, richtig ist. Es gibt sie, diese wunderbaren Diener. Es gibt Menschen, die machen das richtig gern. Und sie sind es auch, die diese Jobs machen sollten. Alpha-Tiere sollten anführen. Das ist ihre Natur, das können sie. Sie sollten keine Jobs machen, bei denen sie sich unterordnen müssen. Das ist wider ihre Natur. So wie die James’ dieser Welt keine Konzerne leiten sollten. Weil sie lieber das Frühstück liebevoll an den Tisch tragen.
Ich glaube nach wie vor, dass das hier alles ein riesiges Puzzlespiel ist. Wäre jeder Mensch an genau seinem Platz, würde sich ein großes, harmonisches Ganzes ergeben. Jeder würde automatisch dienen, indem er das tut, wozu sein Herz ihn (auf)ruft. Alles würde sich wie durch Zauberhand fügen.
Und doch stehen so viele von uns am falschen Fleck.
Zwangsverglückung für alle! Jeden da einfach hinpacken, wo er hingehört! Und sagen: So, Freundchen, hier ist deine Berufung, jetzt mach sie endlich! Glaubst du etwa, du bist der einzige Mensch, der darunter leidet, dass du sie nicht ausübst? Glaubst du etwa, du wärst weniger wert, weil du dann kellnerst statt nen dicken Porsche als Konzernchef zu fahren? Glaubst du etwa, da zu sein kann keine Berufung sein? Ja, du meine Güte! Merkst du denn nicht, Mensch, wie egoistisch du bist, wenn du dich weiter hinter deinen Ängsten versteckst und nicht das lebst, was dich ausmacht? Ich sag’s dir: damit machst du jede Menge andere Menschen ziemlich unglücklich. Wenn du dich schon nicht selber glücklich machen willst, dann tu es doch wenigstens für die anderen! So viel Rücksicht kann man doch wohl erwarten, wenn man sich schon einen kleinen Planeten wie diesen hier teilt.
So einfach könnte das alles also sein. Dazu bräuchte es dann nur jemanden, der mal nen Block und nen Stift nimmt und mal ein wenig Ordnung hier reinbringt. Einen, der sagt: „Du nach links zu den Kinderbetreuern mit Herz! Und du da, ja, genau du: Du bist der perfekte Klempner! Und du da hinten, du stehst völlig falsch. Du musst Bundeskanzler werden! Auf!“
Also, wo ist dieser Mensch? Wo ist der, der dazu berufen ist, uns zu sagen, wozu wir berufen sind?
Ich weiß es. Und du weißt es auch. Er wohnt in deinem Herzen. Hör ihm doch einfach mal zu. Tu’s für dich. Tu’s für alle anderen. Trau dich! Oder willst du dich lieber noch länger zwangsverunglücken?


