Wissen Sie, was „Bullshit-Bingo“ ist? So nennt man eine Auflistung von Phrasen, von denen man garantiert weiß, dass sie als Argumente kommen, weil sie auch so genannte Totschlägerargumente sind. Ich will Ihnen der Einfachheit halber hier mal ein Beispiel nennen.
Wenn Menschen hören, dass ich vor drei Jahren alles aufgegeben habe, was mir Geld einbrachte, zunächst einmal experimentehalber für ein Jahr, dann bekomme ich in aller Regel viele Seufzer zu hören. „Ach ja, das wär’s!“ oder „Das ist genau mein Traum!“ Die Augen leuchten, bevor sie wieder in Resignation versinken. Jetzt beginnt das Bullshit-Bingo. Denn für die Sätze, die ich jetzt zu hören bekomme, kann ich mir schon vorgefertigte Stempel drucken lassen.
Variante 1: „Leider fehlt mir das Geld dafür/Leider kann ich mir das nicht leisten.“
Ein Klassiker! Unser Lieblingssatz, wenn es darum geht, warum wir uns und anderen erklären, warum wir unsere Träume nicht wahr machen. Alles hat eben seinen Preis. Und Freiheit, Lebensfreude und ein Leben ohne Versklavung in der Firma kosten natürlich (!) Geld. Viel Geld. In aller Regel in jedem Fall mehr, als wir haben. Behauptet zumindest die vernünftige Stimme in uns.
Weise ich dann darauf hin, dass die meisten Menschen, die ich kenne, sehr wohl Geld haben, um ein Jahr lang z.B. durch Asien tingeln zu können (da kostet alles viel, viel weniger) und dass man nur das Auto verkauften müsste und die Lebensversicherung auflösen plus das Ersparte nehmen, dann kommt entweder erheblicher Protest oder es zeigt sich Angst auf den Gesichtern. Denn Altersvorsorge, das ist in Deutschland (und sicher auch in Österreich und der Schweiz) heiliger als dem Inder seine Kühe. Wer will schon in Altersarmut (ein geiles Wort!) oder als Sozialschmarotzer (auch ein geiles Wort!) enden? Dass Armut aus etwas anderem resultiert als daraus, nicht viel Geld zu haben, daran erinnert uns hier niemand. Und wenn Menschen mit wenig Geld sowas hier dann lesen, werden sie sowieso wütend. „Die hat doch keine Ahnung, wovon die redet!“ Irrtum. Ich habe eigentlich viel weniger Ahnung davon, wovon diese Menschen reden. Denn ich haben schon viele sehr arme Menschen gesehen. Von denen hatte keiner eine Wohnung im Plattenbau und monatlich ein garantiertes Einkommen, gesponsert vom Staat. Auch durften deren Kinder nicht entgeldfrei in die Schule gehen. Meistens wohnten diese Menschen auf der Straße, mit nichts als den paar Klamotten am Leib, die sie gerade anhatten. Und im Gegensatz zu denen, die mich jetzt gerade angiften, wenn sie das lesen, hatten diese Menschen doch immer ein breites Lächeln für mich, wenn sie mich sahen - mich, diese weiße Frau, die offenkundig viel, viel reicher war als sie. Aber das nur mal am Rande.
Kommen wir zurück zum Bullshit-Bingo. Denn natürlich gibt es auch Menschen, die es sich leisten könnten, das auch wissen, aber einen ganz anderen Grund haben, ihren Traum nicht zu leben (und das Bullshit-Bingo könnte man auch hier endlos weiterführen).
Variante 2: „Ich habe einfach die Zeit nicht!“
Ja, klar! Wer von uns ist schon abkömmlich? Wer ist ersetzbar? Wer kann einfach so alles liegen und stehen und damit alle(s) im Stich lassen? Na, das will doch keiner. Wir wissen doch, dass ohne dich die Welt den Bach runtergeht! Und im Gegensatz zu diesem Menschen sind alle anderen mit genügend Zeit auf die Welt gekommen. Zeit, eine Mangelware. Mangel. Mangel. Mangel. Mangelt es nicht an Geld, dann eben an Zeit. Und die Geschichte ist die gleiche, die gleiche, die gleiche…
Ja gut, dann erkennen wir eben alle jetzt dann, dass 50 Jahre hier eben nicht gleich 50 Jahre sind. Die einen können sie so gestalten, wie sie wollen und haben dafür Zeit. Mit den anderen hat das Leben es eben beschissen gemeint. Die haben zwar auch 50 Jahre, aber leider keine Zeit. Dumm gelaufen. Aber, mal ehrlich: Was ist schon gerecht? Eben.
Variante 3: „Dafür ist es zu spät / Dafür bin ich jetzt zu alt“
Ein Bullshit-Bingo Satz, dem ich in „Meine 26 Egos und ich“ (Schirner Verlag) glatt ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Weil er so unschlagbar gut ist, dass sogar schon Mittzwanziger ihn benutzen, wenn sie anderen erzählen, dass sie jetzt dafür zu spät dran wären, um nochmal ein Jahr ins Ausland zu gehen, weil das Arbeitsleben einen sofortigen Einstieg erfordert.
Prima Argument, absolute spitze! Damit erklärt man sich selber quasi für tot. Denn außer dem absoluten Totsein würde mir jetzt nicht einfallen, wann es für etwas zu spät wäre. Weil alle, die älter sind als ich, jetzt wieder wütend werden, verweise ich gerne auf die 94 Jahre alte Oma Toppelreiter, die durch Altersheime tingelt und den 20 Jahre jüngeren Resignieren gerne erklärt: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Und ihre Geschichte ist praktisch nicht mehr zu überbieten, wie ich finde.
Variante 4: „Ich habe Kinder.“
Ich will gar nicht wissen, welche Muster diese Menschen auf ihre Kinder übertragen. Jedenfalls sind die schon recht früh die Sündenböcke dafür, dass ihre Eltern ihre Träume nicht leben. Kinder, der ultimative Glücksstopper. Kinder, der Grund, warum man sein Leben für mindestens 20 Jahre an den Nagel hängen muss. Kinder, ein Alptraum, der sich nur dadurch rechtfertigt, weil am Ende ein neues Glied der Einzahler in die Rentenkasse steht.
Hat einer dieser Bullshit-Bingo-Satz-Verwender schon einmal seine Kinder gefragt, ob es ok wäre, wenn die Weihnachtsgeschenke einmal ausfallen, weil Papa seinen Traum endlich wahrmachen will? Und wenn ja, wie haben die Kinder reagiert? Egal, wie sie es taten: Sie zeigen dir immer auf, wo du noch wachsen kannst. Wo du dir noch Vorwürfe machst. Wo du geizig dir selbst gegenüber bist. Aber bitte, Leute, hört doch auf, die Kinder dafür verantwortlich zu machen, dass ihr eure Träume nicht lebt!
Variante 5: „Mir fehlt der Mut. / Ich habe nicht so viel Mut wie du!“
Wenn man also Geld und Zeit hat, keine Kinder oder Kinder, die einfach mitziehen, und wenn man dann noch erkennt, dass man zu jedem Zeitpunkt seines Lebens etwas verändern kann, dann bleibt Bullshit-Bingo Satz Nummer 5. Die wortwörtliche Bankrotterklärung des eigenen Selbstvertrauens. Und da kann man doch dann wirklich nichts machen. Andere sind eben mutig. Einen selbst hat der liebe Gott leider vergessen. Beim Mutausteilen im Himmel war man gerade auf dem Klo, als man aufgerufen wurde. Und danach hat keiner mehr gefragt, ob man eine Portion haben wolle.
Mein Beileid.
So, ihr angeblich Mutlosen dieser Welt. Jetzt möchte ich euch gerne mal was sagen.
Was ich gemacht habe (und so ein paar zig Tausende andere, täglich, überall), erfordert keinen Mut. Weil es eine Entscheidung für das Leben ist. Für die Liebe, für das Lebendigsein. Was tatsächlich Mut braucht, ist, jeden Tag aufzustehen, das eigene Leben beschissen zu finden, dem Frust, dem Unglück, der Traurigkeit ins Gesicht zu blicken, darin Krankheit, Elend und Leblosigkeit zu sehen und dann trotz alledem zu sagen: „Nichts da! Ich bleibe!“ Das ist für mich ungefähr so, als würdest du jeden Morgen neben einem gigantischen Monster aufwachen, aus dessen Lefzen das Blut tropft vor lauter Gier, mit kohlschwarzen Augen und üblem Gestank. Und statt wegzugehen, hin an einen Ort, wo nur Engel fliegen und Liebe ist, sagst du entschlossen: „Pah! Engel und Liebe, pft! Das ist was für Feiglinge. Ich nehme all meinen Mut zusammen und stelle mit jeden Tag dem Grauen, auch wenn es droht, mich umzubringen!“ DAS nenne ich mutig! Also erzähle du mir nicht, dir würde der Mut fehlen.
Ich glaube, dass Sie, geschätzter Leser, nun verstanden haben, was Bullshit-Bingo ist. Es ist ein zuckersüßes Spiel des Egos, das mit diesen Sätzen nach Verständnis heischt. Denn wer könnte einen bei diesen top Argumenten schon nicht verstehen? Und wer einen nicht versteht, hat eben keine Ahnung, wie schwer man es hat. Wie fest man wirklich steckt. Dass das für alle anderen gelten mag, aber nicht für einen selbst?
Ja, alle können, wie sie wollen. Nur man selbst nicht. Und man hat ausgezeichnete Gründe dafür.
Fast könnte ich traurig werden, wenn ich daran denke, wie viele Menschen sich täglich gegen die Veränderung entscheiden, die die Grundnatur des Lebens ist. Alles kommt, alles vergeht. Aber dann lächle ich lieber wieder. Denn ich kann mich beruhigt zurücklehnen. Wenn der Mensch nicht will und lieber auf sein Ego hört, dann macht das Leben das schon. Ein kleiner Schubser zur rechten Zeit weckt den Schnarchenden schon auf.
Mich entschuldigen Sie jetzt bitte. Ich kuschle mich jetzt erst einmal gemütlich in mein Bett ein. Denn was gibt es Schöneres, als gemütlich eingekuschelt herumzuliegen? Spazierengehen kann ich doch auch noch später…