Ich und die Anderen
Heute kommen wir zum letzten Punkt der oben angeführten Fragen:
Was kannst Du in der Außenwelt nicht tolerieren?
Wenn wir die Nachrichten sehen oder hören, die Zeitung lesen oder auch nur an unseren Arbeitsplatz kommen, stoßen wir immer wieder auf Ereignisse, Situationen, letztlich Menschen, die ein Verhalten an den Tag legen, daß uns zutiefst zuwider ist, abstößt, nervt, wütend oder fassungslos macht. In der Regel gehen wir auch hier zunächst davon aus, daß wir so etwas nie tun würden. Wir manipulieren, unterdrücken, überlisten, betrügen nicht und würden auch niemals Krieg führen!
Ja, tatsächlich?
Irgendwie tun wir genau dies meistens doch!
Solange wir Anteile von uns selbst loswerden wollen, in unseren Beziehungen Eigenschaften unseres Gegenübers bekämpfen und geschickt manövrieren, damit wir ihn oder sie doch noch so hinkriegen, wie es uns gefallen würde, die Schnarrchbacke vor uns auf der Straße laut stark beschimpfen und unser Chef sowieso der Allerletzte ist, machen wir genau all dies. Aber auf diese Ebene sind wir zuvor schon eingegangen. Die Verbindung geht jedoch von unserem persönlichen Krieg in jeden tatsächlich statt findenden hinein.
Verständlich ist, daß ich den Unfrieden in mir immer auch in die Welt trage und projiziere. Gibt es aber vielleicht noch andere Wirkungen, die diese Verbindung von persönlichem zur Umwelt herstellt?
Wir selbst fühlen uns immer bestimmten Systemen zugehörig. Als aller erstes natürlich unserem Familiensystem. Dabei ist es gleichgültig, ob Du das selbst verneinst. Es ist völlig nebensächlich, ob Du 3000 km von Deinen Eltern entfernt lebst und seit 10 Jahren kein Wort mehr mit ihnen wechselst oder nicht. Es ist auch egal, ob Deine Eltern Dich "verstoßen" haben - für diese Betrachtung zumindest, denn in diese Familie bist Du hinein geboren.
Dann gibt es noch weitere Systeme denen wir angehören. Unsere selbst gegründete Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz, Herkunftsland, und solche unserer Gesinnung usw.
In jedem dieser Systeme gelten bestimmte Regeln und Verbote. Und - wie Hellinger es nennt - wirkt zum einen das persönliche Gewissen und zum anderen das noch viel ältere, archaische kollektive Gewissen.
Das persönliche Gewissen dient dem Einzelnen auch, wenn es auf die Gruppe ausgerichtet ist. Wir spüren sehr genau, was wir tun oder lassen müssen, um weiter dazu zugehören, und wir alle reagieren auf androhende Verstoßung oder Ausschluß meist mit dem Gefühl von Schuld, Scham und Angst. Doch Zugehörigkeit bzw. Bindung ist nur ein Aspekt des persönlichen Gewissens. Ein weiterer ist der Ausgleich, den wir als Verpflichtung wahrnehmen, wenn wir von einem Anderen etwas bekommen haben, ohne etwas gleichwertiges zurückgegeben zu haben - und im umgekehrten Falle als Anspruch, noch etwas zu bekommen. Das wechselseitige Geben und Nehmen von Gutem stärkt die Bindung, wohingegen der Austausch von Schlechtem die Bindung stört oder sogar auflöst.
Als drittes gehört die Ordnung zwischen den Mitgliedern der Gruppe zum persönlichen Gewissen. Dies zeigt sich durch das Gefühl der Unschuld, wenn wir gewissenhaft sind und als Angst vor Strafe, wenn wir dies nicht sind.
Anders verhält es sich beim kollektiven Gewissen. Dies wirkt unbewußt und dient der Gruppe und nimmt den einzelnen in seinen Dienst für die Gemeinschaft.
Wir können daraus erkennen, daß es automatisch immer Grenzen zu anderen Systemen gibt.
Jedes System versucht sich selbst zu erhalten, d. H. die Grenzen zu sichern vor zu viel Außeneinfluß, der das bisherige homöostatische Gleichgewicht zerstören könnte oder würde. Damit dieses Gleichgewicht auch von innen gehalten werden kann, ist es leider fast an der Tagesordnung die Schatten des Systems nach außen zu projizieren. So haben wir dann das Feindbild erschaffen. Und wie wir es von uns persönlich schon erfahren haben, daß wir im Außen bekämpfen, was wir bei uns nicht sehen wollen/ können, erleben wir auch in den Systemen. Es reicht, wenn wir uns nur wenige Stunden mit Kriegspropaganda beschäftigen, um das zu erkennen.
Wie es auch uns im Kleinen schwer fällt in Fällen der Projektion den Anderen klar und vor allem als Menschen zu sehen, um so schwerer fällt es in Systemen. Und beim Aufbau von Feindbildern ist dies natürlich auch nicht erwünscht. Zwei Faktoren spielen hier eine wesentliche Rolle. Zum einen kann man beobachten, daß wenn viele Menschen zusammen sind leicht so etwas wie eine Massenhysterie auftritt. D. h., wir werden viel schneller angesteckt von Gedankengut und Emotionen, als dies in einem Gespräch zu zweit möglich wäre. Zudem wir ja - als Mitglieder des Systems einem Gruppenkodex unterliegen. Zum anderen fühlt sich der Einzelne nicht mehr persönlich verantwortlich. Wenn wir uns mit der Geschichte des 3. Reiches oder ähnlichem beschäftigen werden wir auch das erkennen können.
Vielleicht reicht es aber auch schon aus zu beobachten, wie sich die Menschen in einer Stadt verhalten, wenn einer oder eine angegriffen wird und uns selbst dabei genau wahrzunehmen.
Sind wir augenblicklich bereit zu helfen, einzugreifen? Warten wir ab, wie sich die Anderen verhalten?
Schrecken wir zurück? ...
Sichtbar ist jetzt auf jeden Fall, daß wir viel weniger eine persönliche freie Wahl haben als wir dies gemeinhin annehmen sondern, daß wir eingebunden, verbunden und oft auch verstrickt sind mit den Menschen in den Systemen denen wir angehören.
Fortsetzung folgt...
Ich freue mich auf Dich!