C.G. Jung wusste:
„Das Krankhafte kann aber nicht einfach wie ein Fremdkörper beseitigt werden, ohne dass man Gefahr läuft, zugleich etwas Wesentliches, das auch leben sollte, zu zerstören. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, es zu vernichten, sondern wir sollten vielmehr das, was wachsen will, hegen und pflegen, bis es schließlich seine Rolle in der Ganzheit der Seele spielen kann.“
Das Ziel einer Therapie besteht eben nicht darin, eine Frau oder ein Mann ohne Schatten zu werden, sondern den ungeliebten Schatten anzunehmen, anstatt ihn blind auf die Mitmenschen zu projizieren.
Darum, und noch aus einem anderen Grund ist es wichtig und besonders in der heutigen Zeit so drängend, sich mit dem Schatten in uns auseinanderzusetzen:
Wir verschenken ein ungeheures Potential in uns. Wir lenken in der Therapie gezielt unser Bewusstsein auf Aspekte unserer Persönlichkeit, die als ungeliebt, missachtet, vergessen und verurteilt ein Dasein im Schatten führen, versteckt vor der übrigen Welt. Solcherart verbannt, tendieren diese Persönlichkeitsanteile dazu, uns wie scheinbare Feinde aus dem Hinterhalt zu bekämpfen.
Einmal erkannt und angenommen allerdings entpuppen sie sich jedoch in der Regel als kraftvolle Helfer. Dabei geht es darum, abgespaltene Persönlichkeitsanteile auf die Bewusstseinsebene zu holen - und dann zu lernen, mit diesen Anteilen umzugehen und die dafür notwendigen Kräfte zu entwickeln und zu stärken.
Lassen Sie mich das Ganze nochmal etwas zusammenfassen:
Wo Licht ist, entsteht auch Schatten. Persönlichkeitszüge, die auf gar keinen Fall offen vor der Welt daliegen und gesehen werden sollen, nennen wir in der Psychologie Schatten. Es kann sich um einzelne Eigenschaften der Persönlichkeit handeln, die mit einem bestimmten Verhalten verbunden sind, es können aber auch alle bewussten Eigenschaften und Verhaltensweisen zu einem gewissen Zeitpunkt sein, die wir an uns selbst nicht mögen. Und es gibt Schatten, der uns selber verborgen ist, den die Umwelt aber oft sehr schnell an uns wahrnimmt.
Den Schatten zu integrieren heißt natürlich nicht, ihn hemmungslos auszuleben.
Träume sind ganz besonders gut geeignet, uns Schattenanteile, um die wir nicht wissen, bewusst zu machen. Es gibt allerdings keine (Traum)Symbole, die einwandfrei und ausschließlich auf den Schatten hinweisen, der `Geschmack´ ergibt sich erst aus dem Kontext. Träume wissen nicht einfach die Wahrheit, sondern sie bringen eine bestimmte Perspektive in unser bewusstes Erleben.
Jung hat eine Theorie des Unbewussten entwickelt, in der das Unbewusste nicht einfach ein Sammelbecken für Verdrängtes und Vergessenes ist, sondern eine psychische Ebene, aus der immer wieder neue Impulse kommen, Ausdruck einer psychischen Entwicklung bis zum Tod. Es gibt immer Fremdes in unserer Psyche, das nicht aus Verdrängtem stammen muss. So verstanden gibt Schatten Entwicklungsimpulse für Zukünftiges.
Jung sagt ausdrücklich, dass wir den Menschen nicht ausschließlich von der Schattenseite her erklären dürfen, denn „schließlich ist ja nicht der Schatten das Wesentliche, sondern der Körper, der den Schatten erzeugt.“ (C.G.J.)
Klar bleibt, dass nicht einfach durch Schalterumlegen Licht werden kann, wo Schatten ist, weil jede neue Lichtquelle wieder einen neuen Schatten wirft.
Die nun folgenden Ausführungen basieren wesentlich auf Verena Kasts Buch: `Der Schatten in uns´.
Einen Begriff, der auf Jung zurückgeht, führe ich an dieser Stelle ein, da er wesentlich zum Verständnis des Schattens ist.
Persona (Maske aus griechischem Schauspiel) entspricht unserem Ich-Ideal und der Vorstellung, wie andere uns sehen sollen. So `basteln´ wir ein möglichst ansehnliches, schönes Bild von uns selbst. Da Eigenschaften aus unserem Schatten aber zu unserer Persönlichkeit dazugehören, zeigen die sich auch immer wieder gegen unseren Willen! Soll heißen, dass wir nicht nur das zeigen, was wir beabsichtigen, sondern auch das, was wir besonders zu verstecken suchen.
Die Persona regelt unsere Beziehung zur Außenwelt, zeigt, was wir zeigen möchten und welche Aspekte unserer Persönlichkeit andere an uns wahrnehmen sollen und auch anerkennen. In der Regel versuchen wir genau die Personahaltung einzunehmen, die uns am meisten Akzeptanz verspricht.
Aber manchmal können wir spüren, dass wir damit unsere wahre Persönlichkeit verraten. So kann das Bedürfnis, echt zu sein und die gesellschaftliche Notwendigkeit, eine bestimmte Rolle zu spielen, zu einem Konflikt führen. Die Persona schützt nicht nur unsere eigene Intimität, sie schützt auch andere Menschen vor zu viel Intimität. In diesem Sinne ist Schamgrenze = Grenze im Unszeigenkönnen. Sie befindet sich nicht bei allen Menschen am selben Ort und ist flexibel, je nachdem, in welcher psychischen Verfassung wir sind.
Zur Persona gehört auch unser ganz individueller Kommunikationsstil, und sie entspricht einem persönlichen Aspekt unseres Ich-Ideals. Aber: je heller das Ich-Ideal, umso dunkler der Schatten. Im Ich-Ideal ist meist ein recht perfekter Mensch vorgegeben, sodass das Unperfekte verdrängt werden muss. Elterliche Gebote führen sehr leicht zu Personahaltungen.
Zusammengefasst gesagt ist Persona eine psychische, physische und soziale Haltung, die zwischen der inneren und äußeren Welt vermittelt.
„Unser Schatten ist uns ausgesprochen peinlich. Werden wir bei einem schattenhaften Verhalten, das heißt bei einem Verhalten, das nicht unserem Ich-Ideal entspricht, ertappt, schämen wir uns. Deshalb haben wir die Neigung, Schattenaspekte auf andere Menschen zu projizieren, sie an anderen wahrzunehmen. Wir machen diese Menschen zu Sündenböcken, an ihnen ärgert uns, was mit unseren Schattenseiten zu tun hat oder zumindest damit zusammenhängt.“ V.K.
Aber gerade dieses Unangepasste, Peinliche ist oft das eigentlich Lebendige.
Es gibt Menschen, die mit viel Freude und Fleiß den Schatten anderer ans Licht zerren.
Oder die durch ihre bloße Präsenz die Schatten ihrer Umgebung aufstehen lassen. Menschen, die wenig gesellschaftlich Unakzeptables zu leben wagen, delegieren das gerne an Andere und bringen diese dazu, diesen Schattenanteil auszuleben. In der Anwesenheit dieser Menschen können sich die einen dann friedvoll, ehrlich, zurückhaltend fühlen.
So kann ich meine ungeliebten Anteile im Anderen heimlich genießen, ohne Konsequenzen, indem ich sie verurteile, und kann mich außerdem moralisch überlegen fühlen: Schattenleben aus zweiter Hand, schwimmen, ohne nass zu werden – der Schattenkontakt ist ungefährlich, aber er bleibt eben auch passiv und unlebendig. Im Extrem versichert man sich seines Selbstwertes über die Schattendiffamierung. Ist die Projektion aber nicht zur Verfügung, erweisen sich die, die quasi `leben lassen´ dann oft als wenig von dem, von dem sie sonst so tun können als ob.
Aus einem Schatten kann ein Doppelgänger werden, eine Verkörperung meiner über die Zeit generalisierten Gefühle und Gedanken, aber nur der allerniedersten Art.
Doppelgänger führen ein Doppelleben, das Ich hat keine Macht mehr darüber. Nun begegnet uns scheinbar immer nur von außen, was eigentlich innerer Konflikt ist, aber wir können das nicht mehr so sehen.
„Im Moment der Liebe versagen übrigens alle Doppelgänger, denn Liebe fordert den ganzen Menschen. Ein Liebespartner kann sich nicht bald auf die eine Persönlichkeit in Liebe beziehen, bald auf die andere, gegensätzliche. Das fördert die Konfusion, aber nicht die Liebe.“ V.K.
Weil nie eine Ablösung vom Ich-Ideal gelungen ist, scheinen diese Menschen nicht liebesfähig. Es dauert manchmal lange, bis man das merkt, aber: wenn sie durch Taten ihre Worte beweisen müssen, fliegen sie auf.
Auch Gruppen können einen Schatten haben, eine Gesellschaft, ein ganzes Volk.
Als Schattenträger haben die Juden im Nazi-Deutschland ihre Individualität verloren, weil ihr eigentliches Wesen hinter den Schattenprojektionen nicht mehr wahrgenommen werden kann. Das passiert, wenn der Schatten zu groß wird: das eigentliche Wesen, auch das des Individuums, ist nicht mehr wahrnehmbar.
Nach meinem Dafürhalten auch die wesentliche Dynamik hinter jedem Mobbing-Geschehen.
Der bekannteste Gesellschaftsschatten ist das `man´. Wir alle sind sehr vertraut mit ihm. Er ist ein Produkt aus Gewohnheit, Vorurteilen, Engstirnigkeit, Rassismus, Sexismus. Außerhalb dieses MAN ist Einsamkeit und Eigenverantwortung.
Meist verleugnen wir den Schatten so vehement, weil wir den Zusammenbruch des Ansehens fürchten. Das macht uns im Einzelfall erpressbar und verzweifelt.
Können wir nicht zu unserem Schattenverhalten stehen, können andere über uns verfügen, sie haben Macht über uns und versetzen uns in Angst und Schrecken. Akzeptieren wir unseren Schatten, werden wir authentischer – aber auch gewöhnlicher. Wir sind dann nicht mehr Opfer unserer Projektionen und die im Schatten steckende Lebendigkeit wird verfügbar, Beziehungen dadurch offener und Angst freier. Der Schatten ist immer auch für eine Überraschung gut, es ist nie ganz vorherzusehen, was noch alles darunter schlummert. Schattenakzeptanz setzt ein belastbares Selbstwertgefühl voraus.
Wenn wir einem anderen Menschen Schatten `verschreiben´, sind wir meist sehr davon überzeugt, dass der betreffende Mensch diesen Schattenanteil auch tatsächlich hat. Schattenverschreibungen werden als verletzende Grenzüberschreitung empfunden, da wir nicht darum gebeten haben, auf diese Art mit unserem Schatten konfrontiert zu werden.
Unter Geschwistern z.B. wird Schatten wild projiziert und delegiert, und die Projektionen werden auch später im Erwachsenenleben selten hinterfragt.
(weitere Fortsetzung folgt)