Seelchen
oder „die etwas andere Weihnachtsgeschichte“
Von Jacqueline Maag-Kofel
Seelchen putzte wie wild. Seine Fingerchen waren schon bald wund und sein Stern
drohte ab dem ungestümen Putzen den Glanz zu verlieren anstatt ihn zu
bekommen. Seelchen war in seinen Gedanken nicht bei der Arbeit. Heute Abend,
kurz vor Arbeitsbeginn, hatte es wieder einmal seinen Putzlappen nicht gefunden.
Es stimmte schon was man ihm immer wieder vorwarf, es war ab und zu wirklich
ein wenig unkonzentriert - und Ordnung zu halten gehörte nicht zu seinen Stärken.
So musste Seelchen wohl oder übel in den Putzraum gehen und ein neues weiches
Tuch holen. Der Putzraum lag im gleichen Geschoss wie die Büros der
Seelenverwaltung. Heute Abend war die Türe der Verwaltung ein Spältchen offen
gestanden und Seelchen konnte trotz der Aufschrift "Eintritt verboten" nicht
widerstehen.
Nur einen kleinen Blick wollte es in das verbotene Zimmer werfen, um vielleicht
einmal das dicke Verwaltungsbuch, von dem zwar alle immer sprachen, aber keiner
wusste genaueres darüber, mit eigenen Augen zu sehen.
Keine Seele befand sich im Zimmer und das dicke Buch lag aufgeschlagen auf dem
Schreibtisch. Seelchen huschte an den Tisch, stellte sich auf die Zehenspitzen und
sah zu seiner Überraschung auf der obersten Zeile seine eigene Nummer. Nummer
31074 und auf der zweiten Linie einen Mädchennamen und unter dem Vornamen
einen Familiennamen und eine Adresse.
Seelchen 31074 begriff blitzschnell, dass die Putzerei nun bald vorbei war und ihm
in den nächsten Tagen eine neue Bleibe zugeteilt würde. Zwar mit einem schlechten
Gewissen, aber voller Aufregung und Freude, flitzte es aus dem Zimmer und putzte
nun seinen Stern.
Am Morgen, als die Sonne die Sterne am Himmel ablöste, legte sich Seelchen wie all
seine Mitseelchen in sein Bettchen. Nur Seelchen fand vor lauter Neugierde keinen
Schlaf. Es wartete ungeduldig, bis sine Zimmergenossen ruhig und gleichmässig
atmeten. Ein sicheres Zeichen, dass alle tief schliefen. Seelchen schlich sich leise aus
seinem Bett, öffnete so leise wie möglich das Fenster um einen Blick auf die Erde zu
werfen. Vielleicht konnte es ja da unten die aufgeschnappte Adresse und
möglicherweise seine zukünftigen Eltern ausfindig machen. Seine Augen suchten die
halbe Erde ab. Es war unendlich mühsam etwas zu finden, aber Seelchen war zu
neugierig um aufzugeben. Endlich, hier musste es sein. Ein grosses Haus an einem
Bach mit neun Wohnungen. Damit hatte es nicht gerechnet. Nun musste es jede
Wohnung einzeln betrachten. Seelchen war nicht dumm. Es suchte gezielt nach
einem Zimmer mit einem Kinderbett oder Stubenwagen und endlich sah es ganz
deutlich einen leeren Stubenwagen, an dem eine Frau mit flinken Fingern ein
hübsches Verdeck montierte. War das wohl die zukünftige Mutti?
Kann nicht sein, überlegte Seelchen. Die ist so dünn, fast mager; wo sollte da ein
Kindlein wachsen? Da öffnete sich die Zimmertüre und herein kam eine jüngere
Frau mit einem unglaublich dicken Bauch, langen Haaren und einem fröhlichen
Gesicht, das mit braunen, unschönen Flecken übersät war. Das muss sie sein, dachte
Seelchen. Wir werden uns sicher gut vertragen, aber wo ist denn der Mann? Muss
ich etwa ohne einen Papi zurechtkommen? Ein wenig enttäuscht legte sich Seelchen
nun in sein Bett, um doch noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Auch hatte es
plötzlich Bedenken, es könnte sonst seinen Aufruf ins neue Leben verpassen.
Die nächste Nacht verging wieder mit putzen und polieren. Wenn Seelchen sich
unbeobachtet fühlte, schweiften seine Augen in Richtung Erde. Die Stelle, wo sich
in nächster Zeit das grosse Ereignis abspielen würde, hatte es sich haargenau
gemerkt. Aber es blieb alles normal und ruhig. Aber gegen Morgengrauen fuhr ein
Auto mit einer Beleuchtung auf dem Dach an die von Seelchen so gut beobachtete
Adresse. Die Frau mit dem dicken Bauch trug einen kleinen Koffer und stieg etwas
unbeholfen in das Auto. Das Auto fuhr nur etwa drei Kilometer weiter und hielt vor
einem grossen Haus. Einige Fenster waren hell erleuchtet.
Seelchen konnte nun alles genau mitverfolgen. Die Frau wurde von einer
Krankenschwester in ein Zimmer begleitet. Man half ihr beim Ausziehen und sie
musste sich in ein Bett legen. Nun krümmte sie sich vor Schmerzen und musste sich
noch übergeben. Mein Gott, dachte Seelchen, die ist ja richtig krank, ich glaube, ich
habe mir die Zahlen im dicken Buch doch nicht richtig angesehen.
Wieder löste die Sonne die Sterne am Himmelszelt ab und wieder musste das
enttäuschte Seelchen in sein Bett. Träumte es nun oder war es aufgerufen worden?
Tatsächlich, ganz deutlich vernahm es nun die Stimme des Sekretärs: Seelchen
31074, sofort bereit machen zum Aufbruch in ein neues Leben. Der
Seelchenbegleiter fasste Seelchen an den Händen und zog es mit sich in Richtung
Erde. Aus den Augenwinkeln sah Seelchen noch ein sehr sympathisches, aber
besorgt dreinblickendes männliches Wesen in einer schmucken Uniform.
Hurra, doch ein Papi, fuhr es Seelchen durch den Kopf. Und Seelchens Leben fing
an, unschuldig und unwissend in einem neugeborenen zarten Körperchen.
Du glaubst mir diese Geschichte nicht? Dann schau in einer sternenklaren Nacht
zum Himmel und überleg Dir, warum die Sterne so unruhig flimmern.
Ganz einfach, das bewirken die Putzlappen der vielen fleissigen Seelchen.
- ENDE -