»Der Mensch muss spüren, dass er in einer Welt lebt, die in gewisser Hinsicht geheimnisvoll ist – dass in ihr Dinge geschehen und erfahren werden können, die unerklärbar bleiben (...) Nur dann ist das Leben ganz.« (Carl Gustav Jung)
1980 sprach die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den schamanischen Heilweisen die gleiche Bedeutung in der Heilung psychosomatischer Erkrankungen zu, wie der modernen Medizin. Aber was macht einen Menschen „heil“ im ursprünglichen Sinne von „ganz“? Wie gestaltet sich ein möglichst ganzheitlich entwickeltes Dasein?
Sie merken, dass es sich hierbei um eine Fragestellung handelt, welche ebenfalls die integralen Philosophien zu beantworten versuchen. Wir finden auf gewisse Weise jedoch bereits lange vor Jean Gebser und Ken Wilber zumindest einige Antworten auf diese Fragen und zwar im Kontext der schamanischen Kulturen, sowie im Amt des Schamanen als solches. Natürlich handelt es sich bei einem schamanisch tätigen Heiler nicht um einen Heiligen, jedoch im Regelfall um einen Menschen, der bestimmte Prüfungen und Erfahrungen am eigenen Leib durchlebt und entsprechend integriert hat. Außerdem ist über die Jahrzehnte andauernde Ausbildung in ihm eine weitreichende Kenntnis, man könnte beinahe sagen „Kartographie“ der Seele entstanden. Neben der Präsenz im Alltag und mit der Umwelt, dienen vor allem gezielt veränderte Bewusstseinszustände und bewusst evozierte Krisen als „Fahrzeug“ und Reifeprüfung. Mircea Eliade beschrieb den „Universalheiler“ daher als einen Trance-Experten. Viele der traditionellen Schamanen welche ich in Südamerika oder Nepal kennen gelernt habe, sind jedoch „ganz normale Menschen“, die tagsüber ihrem Alltagsberuf nachgehen und nachts die notwendige Heilarbeit leisten. Das macht den „Urheiler“ zu einem Wesen der „zwei Welten“. Doch er ist weitaus mehr als das: Eine holistische Persönlichkeit, die sich auf allen Ebenen des Seins bestmöglich entwickelt und verwirklicht hat. Im Griechischen Wort „therapeuèn“ – finden wir einen Nachklang des Universalheilers, denn noch in der Antike waren „Therapeuten“ weitaus mehr als nur Heiler. Sie waren auch für die (geistig-spirituelle) Einweihung von Menschen zuständig. Was ist also unter einer solchen Einweihung zu verstehen, wie sie auch die alten Griechen noch im Kollektiv vollzogen haben? Es handelt sich dabei um ein erhöhtes Maß an Verstehen. Ein integrales Selbst- und Weltverständnis. Aber vor allem auch das Begreifen der Sinnhaftigkeit hinter einem bestimmten Leid oder Schmerz. Sei es nun auf der physischen (Fleisch), psychischen (Ethik), energetischen (Äther) oder spirituellen (Ontologie) Ebene. In diesem Sinne hatte auch der Tugendheld Parzival dem Gralskönig die entscheidende Frage zu stellen: »Amfortas, was fehlt Dir?« Die eigentliche Idee dahinter finden wir heutzutage bspw. in der Homöopathie oder im systemischen Familienstellen deutlich wieder. In schamanischen Heilweisen wird nicht nur „Gleiches mit Gleichem“ geheilt oder ein Gleichgewicht wieder hergestellt, es werden auch explizit die Orte besucht, vor denen sich der „aus dem Gleichgewicht Geratene“ am meisten fürchtet. Ein Prinzip, welches wir ebenfalls in der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation oder im christlichen Pilgerwesen wiederfinden – man denke nur an Jesus in der Wüste. Es wäre daher auch stimmig einen schamanisch tätigen Menschen als „Harmonisierer“ zu bezeichnen, dem es ein Anliegen ist die inneren und äußeren Systeme: Mensch, Familie, Dorfgemeinschaft, Firmenstruktur, Umwelt und Kosmos bestmöglich zu ordnen und in Einklang zu bringen. Zahlreiche Ethnologen und Anthropologen belegen die Simultanität und Synchronizität mit welcher sich die Techniken allesamt auf allen Kontinenten vor mindestens 40.000 Jahren entwickelt und häufig bis heute erhalten haben. Sie sind auch durch die organisierten Religionen übernommen worden und bis heute immer wieder in unzählige therapeutische Methoden mit eingeflossen. Da der Mensch vor allem auch ein „Trance-Wesen“ ist und es ihm heutzutage an eben dieser bewusst erlebten Trance-Erfahrung mangelt, scheint es mir sinnvoll das alte Wissen zurückzuholen und auf fundierte Weise bewusst zu Re-Integrieren. Dann wird oftmals wieder so etwas wie solide Erdverbundenheit, innere Kraft, höherer Sinn und beflügelnde Zukunftsvision möglich.
Herzlichst Jörg Fuhrmann,
wwwfreiraum-institut.de