Heilung der Ur-Wunde
von Gerd Bodhi Ziegler -
Die tiefste Ur-Wunde, die wir in Bezug auf die menschliche Liebe in uns tragen, wurzelt in der illusionären Erfahrung der Trennung vom göttlichen Ursprung. Diese ist bei jedem denkbaren Leiden mit im Spiel. Der paradiesische Garten, in dem einst Adam und Eva verweilten, war ein glückseliger Zustand in der Einheit mit der göttlichen Gegenwart. Eine Traumzeit, erfüllt von ursprünglicher Unschuld in einer geborgenen, nährenden Umgebung. Alle lebenserhaltenden Bedingungen waren reichlich vorhanden, alle Bedürfnisse wurden erfüllt und befriedigt. Ihr Miteinander war wie ein spontaner, unbeschwerter Reigen.
Sofern ideale äußere Bedingungen gegeben sind, erlebt ein in Liebe empfangenes und erwünschtes Kind diesen Zustand in seiner allerersten Lebensspanne. Dazu gehören die Schwangerschaft und in der Regel sein erstes Lebensjahr. Die mütterliche liebende Nahrung und Fürsorge sowie die väterliche schützende Präsenz bieten ihm ein haltendes und tragendes Umfeld. Diesem Eins-Sein mit sich selbst und der sicher tragenden Umgebung kann es sich vollkommen anvertrauen.
Etwas später bilden sich dann die ersten Formen einer getrennten Ich-Identität mit den folgenschweren Auswirkungen. Wenn diese erste Lebensphase weitgehend störungsfrei verläuft, wiederholt sich später das Erleben jener paradiesischen Erfahrungsräume: Das Gefühl, zu Hause zu sein, wenn man glücklich verliebt ist und diese Zuneigung auch erwidert wird. Diese traumhaft schöne Zeit der ersten Liebe löst mit ihrer Intensität die Illusion der Trennung vorübergehend wieder auf.
Die sich magisch anziehenden Gegenpole finden wieder zueinander und streben nach vollständiger Vereinigung. Kann sich dies ungestört entfalten, scheinen die Verliebten in den Garten Eden zurückgekehrt zu sein. Es ist die bezaubernde und entzückende Zeit der jungen Liebe, die uns erneut mit dem Ur-Grund des Lebens verbindet. In diesem offenen Zustand umarmen wir sprichwörtlich die ganze Welt.
Diese kurze Zeit wird meist rauschhaft erlebt. Deshalb kann die schöne Traumblase natürlich sehr schnell wieder platzen. Das schmerzliche Gefühl des Getrenntseins kann sich plötzlich und unerwartet aufs Neue einstellen. Leider gibt es allzu viele Menschen, die bereits in der Zeit ihrer ersten Liebe schwere Enttäuschungen und Verletzungen erfahren. Diese bleiben oft ein Leben lang im unterbewussten Gedächtnis gespeichert und warten auf Heilung und Erlösung.
Um Beziehungen zu erhalten, versuchen die Liebenden – mitunter verzweifelt – die ursprünglichen Glücksgefühle im weiteren Miteinander zu festigen. Dabei kann eine schöne, lebendige und lustvolle Sexualität eine immer wieder aufs Neue belebende Kraft sein. Doch auch diese Speicher der Glückshormone sind bei herkömmlichem Sex recht bald verbraucht. Nüchterne, praktische und realistisch veranlagte Menschen sind schließlich mit einer Schutz und Sicherheit bietenden Zweckgemeinschaft zufrieden, was auch ein guter Rahmen für gemeinsame Kinder sein kann. Alle Grundbedürfnisse scheinen – zumindest vorübergehend – berücksichtigt zu sein.
Doch die hohen Trennungs- und Scheidungsraten deuten darauf hin, dass viele Menschen sich nicht wirklich in den üblichen Formen von Ehe und Beziehung niederlassen und entfalten können. Im Bewusstsein der Trennung kann kein Mensch bleibenden, tiefen Frieden und vollkommene Erfüllung finden. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir allein oder in einer Partnerschaft, Ehe oder Familie leben.
Kehren wir nochmals zur Situation des ca. dreijährigen Kindes zurück. Das Heraufdämmern des getrennten Ichs löst die Ur-Wunde aus. Da ist zunächst der Schock, etwas sehr Wertvolles und Wunderbares, das früher selbstverständlich vorhanden war, unwiderruflich verloren zu haben. Das Kind gibt sich selbst dafür die Schuld und beginnt an seiner eigenen Richtigkeit zu zweifeln.
Darüber hinaus entdeckt es sein Alleinsein und damit einhergehend seine grundsätzliche Abhängigkeit von seinen wichtigsten Bezugspersonen. Es lernt, seine Wünsche anzumelden und deren Erfüllung einzufordern. Doch es macht auch immer wieder die Erfahrung, dass die Umwelt es nicht jederzeit wahrnehmen und auf seine Bedürfnisse oft nur unzureichend eingehen kann. Vor allem sein innerstes Wesen wird in aller Regel nicht wirklich gesehen und zurück gespiegelt.
Darüber hinaus ist die tragende, lebenserhaltende Liebe immer öfter an Bedingungen geknüpft, die nicht dem Wesen seiner Natur entsprechen. Die Folge ist ein Gefühl des Mangels, der Frustration, der Verlorenheit und der Angst vor Liebesentzug. Dies wird als eine schmerzhafte Bedrohung seiner Lebensgrundlage und tragenden Geborgenheit erlebt.
Diese existenzielle Verunsicherung ist der Boden für die Ur-Angst vor Mangel, Verlust und Liebesentzug, was dann in späteren Beziehungen das Erleben von Eifersucht und Verlustangst hervorruft. Hinzu kommt ein nagender Selbstzweifel, der zu einem unsicheren Selbstwertgefühl führt. Man kann nicht wirklich glauben, bedingungsfrei angenommen und geliebt zu sein.
Da Sexualität unbewusst die Funktion hat, die Bindung der Partner zu bestätigen und zu festigen, ist sie auch in der Regel der kritische Auslöser für emotionalen Stress. Denn auch in den üblichen Gipfelorgasmen, so kurz und vorübergehend sie auch sein mögen, kann der Funke momentaner Einheit aufleuchten. Die Intensität des Köpergeschehens kann kurzzeitig den kontrollierenden Verstand ausschalten. Für den Bruchteil von Sekunden öffnet sich der Raum der Einheit, auch dann, wenn dies nur unterschwellig wahrgenommen wird.
Bedingungsfreie Liebe braucht die Bereitschaft, unserem inneren Mangel zu begegnen und ihn in Liebe umarmen zu lernen. Dies ist der Weg, wie die Kraft der Liebe ihn schließlich heilen und transformieren wird. Projizieren wir unsere unerfüllten Bedürfnisse jedoch auf einen anderen Menschen, wird unsere „Liebe“ immer an Erwartungen und Bedingungen geknüpft bleiben. Nichts und niemand kann sie jemals ganz erfüllen. Wir bleiben gefangen in einem Teufelskreis voll schmerzhaften Mangels und endloser Enttäuschungen.
Sobald wir jedoch auf wertschätzende Weise mit uns selbst umgehen lernen, werden wir auch unsere Geliebten mit genau dieser Haltung zutiefst annehmen und willkommen heißen. Dies ist für alle Beteiligten unendlich erleichternd und befreiend. Auf diese Weise kompromisslos und immer wieder aus Neue miteinander zu sein, ist unsere Meisterprüfung in der Liebe. Wahre Liebe ist gleichzeitig wahre Freiheit.
Zur Heilung der Liebeswunden gehört auch die bereitwillige Wahrnehmung aller in uns auftauchenden Emotionen und Bedürfnisse. Diese zu meistern bedeutet keineswegs, sie überhaupt nicht mehr zu spüren oder intensiv zu erleben. Ihre Heilung erwächst vielmehr aus unserer Bereitschaft, sie mitfühlend willkommen zu heißen und liebevoll anzunehmen. Als Teile unser selbst wollen unsere Gefühle wie bedürftige Kinder einfach nur da sein dürfen. Sie warten darauf, wohlwollend gesehen und liebevoll umarmt zu werden.
Dadurch laden wir sie immer wieder in unsere Herzensliebe ein und verwandelen sie wie von selbst in pure Lebensenergie. Alsbald hören sie auf, uns zu plagen und zu tyrannisieren und beginnen, uns mit dem ihnen innewohnenden Reichtum zu vervollständigen und zu segnen.
Der Text ist ein Auszug aus meinem aktuellen Buch „Wer liebt hat alles“.
Herzlichst
Gerd Bodhi Ziegler
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