Rapunzels Freiheit.
von Claudia Sieber Bethke -
Es ist leicht glückliche Gedanken zu haben, wenn man gerade glücklich ist oder reiche Gedanken, wenn man reich ist. Auch die liebevollen Gedanken fliegen einem zu, wenn sich gerade die Liebe im Leben erfüllt.
Doch an so manchen Tagen erleben wir unsere Wirklichkeit anders. Dann ist es wie verhext und das mit dem „einfach anderes denken“ ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es scheint, als wären
wir gefangen in einem Turm, der keinen Ausgang hat. Und die dunklen Gedanken kreisen, wie Raben um die Turmspitze und krächzen uns zu „lass es, du kannst hier nicht raus“. Und für manche Menschen scheint es für den Rest des Lebens keinen Weg aus diesem Turm zu geben…
Aber ist das wirklich war? Ist der Gedankenturm denn wirklich ein Gefängnis ohne Ausgang?
Da fällt mir eine Art Rapunzelgeschichte ein…
Ein kleines Mädchen wurde von einer Hexe in einen Turm gesperrt, um eine Schuld der Eltern abzutragen. Dieser hatte weder Tür noch Treppe und war nur durch ein einziges Fenster zugänglich. Ihre Lage schien aussichtslos… Wer kann schon einem Turm ohne Tür entkommen? Sie hatte wohl keine andere Wahl, als ihr Schicksal anzunehmen. Tag für Tag saß sie in ihrem spärlich ausgestatteten Verlies und blickte aus dem Turmfenster. Sie sah die Welt, die niemals ihre werden könnte. Die Sonnenstrahlen begleiteten ihre hoffnungsvollen Träume von einem anderen Leben, aber die Regenwolken bestätigten ihr trauriges Dasein. Und davon gab es viele… und je älter sie wurde, desto mehr schwand die Kraft, an ein Leben außerhalb ihres Verlieses zu glauben.
Während der Zeit des Heranwachsens wuchs natürlich auch das Haar des hübschen Mädchens. Und jedes Mal, wenn sie ihren Kopf aus dem Burgfenster streckte, um den Duft der Freiheit einatmen zu können, wehte es um ihr Gesicht und es schien, als würde sie jemand an der Wange streicheln und ihr sagen zu wollen, „das wird schon, glaub dran…“. Sie liebte diese Momente. Denn sie hatte dann das Gefühl, nicht allein zu sein. Also sah sie so oft es ging aus dem Fenster.
Dieses Gefühl, welches durch die Berührung der wehenden Strähnen entstand, gab ihr für einen kurzen Moment die Zuversicht zurück und den Glauben, dass es einmal Hände sein würden, die ihr Gesicht berühren werden. Und so wurde ihr Haar zu ihrem größten Schatz und sie machte es sich zur Gewohnheit, es mit viel Liebe zu pflegen. Täglich bürstete sie es, ausgiebig und achtsam. Nach einiger Zeit war es so lang, dass sie es zu einem Zopf drehen musste. Wenn sie aus dem Fenster sah, wehten ihr immer noch ein paar kurze Strähnen ins Gesicht, doch gleichzeitig hing der liebevoll gedrehte Teil des Haares wie ein Seil aus dem Turmfenster. Und mit der Zeit wurde der Zopf länger und länger, bis er den Boden außerhalb des Turms berührte.
Außerhalb… wie schön wäre es dort. Gedanken begannen in ihrem Kopf zu spielen. „Was wäre, wenn jemand käme und einfach an dem Haarseil heraufklettern würde? Na ja, wer sollte das schon sein? Ich bin ein Turmmauerblümchen, wieso sollte mich jemand sehen? Es weiß ohnehin niemand, dass es mich gibt…“ Und wenn es doch geschehen sollte, was sollte sie mit ihm reden? Sie weiß doch gar nicht, wie das geht...
Das Auf und Ab zwischen den Zuversichtsaugenblicken und den Zweifelsmomenten war anstrengend, aber auch dies gehörte bald zu ihrem Tag. Es wurde normal, sie nahm es hin und verbrachte ihren Tag eben mit diesen Gedanken und Gefühlen.
Und mit Warten ...
Meist enden solche Märchen damit, dass das schöne Mädchen eines Tages doch von einem charmanten Prinzen gefunden wird, der sie mutig aus ihrem Verlies rettet. Und man erzählt sich dann davon, dass sie beide glücklich sind bis an ihr Lebensende. Wo auch immer und wie auch immer das ausgesehen mag…
Doch mir ist immer noch ein Rätsel, wie der junge Mann aus der Geschichte das eigentlich anstellen könnte;). Nun, rational betrachtet, hat er möglicherweise ein Seil bei sich, dass er im Turmzimmer an etwas befestigt, um dann den traurigen Ort mit seiner Auserwählten kletternd zu verlassen. Wie gut, dass es noch praktisch denkende Prinzen auf dieser Welt gibt… sonst würde das Mädchen tatsächlich bis an ihr Lebensende dort sitzen. Denn ihr Weg in die Freiheit ist ja an das Auftauchen des Prinzen, seinen hoffentlich vorhandenen Mut und sein beherztes Handeln gebunden.
Ist das nicht auch wie ein Turmverlies? Wenn man darauf warten muss, dass jemand kommt und für einen handelt. Was wäre, wenn die Geschichte des Mädchens anders verlaufen würde? Es gäbe da eine Möglichkeit…
Etwas in ihr schien sich dagegen zu wehren, dass der Turm ihr lebenslanges Zuhause sein sollte. Jedes Mal wenn sie in die Ferne sah und das Gefühl der Berührung ihrer eigenen Haarsträhnen wahrnahm, sah sie das Leben vor sich, dass sie leben wollte. Sie wollte durch die Wälder streifen und Beeren schmecken. Sie sehnte sich danach, das Wasser des Sees an ihren Füßen zu spüren und mit den Fingern das weiche Gras zu berühren. Sie sah sich mit anderen Menschen sprechen und lachte bei dem Gedanken, mit Kindern zu spielen. Und sie wusste genau, sie könnte auch das Haar anderer Mädchen hübsch gestalten. Warum nicht?!
Sie wollte nicht mehr länger warten. Doch was könnte sie tun, um dieses Verlies zu verlassen? Und dann kam ihr eine Idee…
Bei dem Gedanken hüpfte Ihr Herz vor Freude. Doch gleichzeitig zog es sich zusammen, als hätte man in dasselbe hineingestochen. Wird sie es schaffen, diese Idee wirklich durchzuführen? Es wird sich vieles verändern… Was ist, wenn man sie dort draußen nicht will? Die Menschen kennen sie doch gar nicht – und sie die Menschen nicht… Doch sie wollte unbedingt in diese Welt ihrer Tagträume. Die alles durchdringende Sehnsucht nach diesem Leben gab ihr die Kraft an sich selbst zu glauben. Und die Kraft einen mutigen Schritt zu tun. Ihr Herz schmerzte, wenn sie daran dachte, was sie dafür aufgeben musste. Es bedeutete einmal ihr Leben. Doch sie wusste auch, dass sie sich entscheiden muss. Zu bleiben und zu halten, was einem das Wichtigste war – oder sich für die Freiheit zu entscheiden. Und das wollte sie aus ihrem tiefsten Inneren heraus. Auch wenn der Preis sehr hoch sein würde…
Als sie wieder aus dem Fenster sah und der Wind für die geliebten Streicheleinheiten sorgte, wurde die Sehnsucht nach diesem Leben so groß, dass sie tat, was zu tun war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und hielt ihr Herz in den Händen, damit es nicht zerbrach. Und mit einem Messer und eine beherzten Ruck schnitt sie sich den langen Zopf ab!
Sie weinte bitterlich und doch spürte sie, es war der richtige Schritt. Sie band den Zopf an einen Balken in der Mitte ihres Turmzimmers. Sie wusste, sie kann auf die Festigkeit des Haarseils vertrauen, schließlich hatte sie es jahrelang mit viel Liebe gepflegt. Außerdem hatte sie auch einmal daran geglaubt, dass ein Prinz daran hochklettern kann. Dann wird es sie schon aushalten.
Als sie sich langsam an dem selbstgedrehten Seil herunterbewegte, streichelte es wieder über ihr Gesicht. Doch diesmal waren es Tränen. Sie liefen über ihr Gesicht und bedeuteten sehr viel. Es war die Angst vor dem was sie erwartete, aber gleichzeitig die Freude darauf. Es war die Trauer, ihren größten Schatz zurückzulassen, der sie so lange die Freiheit spüren lies. Und gleichzeitig das Glück, weil er ihr jetzt diese Freiheit auch bescherte. Als sie ganz unten angekommen war, weinte sie immer noch, doch sie spürte auch den Boden unter den Füßen. Alles sah so anders aus hier unten. Ob sie den Weg finden wird in die Stadt? Da ließ sie ihre Gedanken wieder schweifen und erinnerte sich an ihre Träume… und nach dem sie den größten Schritt in ihrem Leben geschafft hat, wusste sie, sie wird ihn finden. Denn sie hatte die Bilder in ihren Gedanken so genau gesehen, dass sie darauf vertraute, dass sie ihr den richtigen Weg zeigen werden. Also lief sie einfach los….
Und man erzählt sich, dass eines Tages in einer Stadt ein wunderschönes Mädchen auftauchte. Sie war ungewöhnlich, denn sie trug ihr Haar kurz. Und damals waren die Menschen verunsichert, weil sie dadurch anders wirkte. Doch durch ihr offenes Herz und ihre liebevollen Ausstrahlung eroberte sie bald alle Herzen im Sturm. Und man erinnert sich noch heute an die wundervollen Frisuren, die sie den Mädchen der Stadt flocht. Sie band sie mit sehr viel Liebe und bezauberte damit die Mädchen und ihre Verehrer. Sie wurde sogar die Hoffriseurin für die Prinzessin der Stadt und war ein gern gesehener Gast bei vielen Bewohnern der Stadt. Und sie verliebte sich! In einen handwerklich begabten jungen Mann, der für sie beide ein Haus baute, in dem die Türen immer offen standen, wenn sie das wollte…
Ich wünsche Euch heute einen Tagtraumtag, der euch die Träume zeigt, die es wert sind, sie zu verwirklichen. Auch wenn die Lebensumstände uns gerade eine andere Wirklichkeit zeigen und der Preis manchmal sehr hoch scheint - er kann uns dabei helfen, nicht für den Rest unseres Lebens nur aus einem Turmfenster zu sehen….
Von Herzen alles Liebe
Claudia Sieber Bethke