Die Zeit ist reif – stelle dich deinem Schatten!
von Bianka Maria Seidl -
Viele Menschen scheuen sich davor zur Ruhe zu kommen, vermeiden sie doch die Begegnung mit sich selbst. So lenken sie sich lieber ab, zerstreuen ihre Energie, lassen sich übermäßig unterhalten, übernehmen eher die Verantwortung für andere, als für sich selbst.
Der Fokus ihrer Aufmerksamkeit liegt zumeist im Außen – weg von sich selbst. Mit viel Energie wird täglich der eigene Schatten unterdrückt, nach außen projiziert und dort dann bei anderen bekämpft. Sie kennen ihr Innenleben und die hier wirkenden Schattenanteile wenig, bis gar nicht, fühlen sich jedoch oft als Opfer der Umstände.
Dabei waltet und schaltet in uns allen ein inneres Team, das im Schatten liegt. Diese sich im Dunkeln befindlichen Mitglieder sind Meuterer, Widerständler, Wegelagerer und Richter. Aber es gibt hier auch Weise und Heiler, die unentdeckt, ihre Gaben nur in ganz seltenen Fällen einbringen können.
Solange wir unseren Blick nicht nach innen richten, bleiben diese Schattenanteile unbewusst und dennoch schalten und walten sie und bestimmen unser Leben. Denn das Unterbewusstsein schreibt zu 80% an unserem Lebensdrehbuch mit. Nur 20 % der Ergebnisse erwirken wir aus unserem normalen Tagesbewusstsein heraus.
Den Schatten integrieren
Entschleunigen wir, halten wir inne, nehmen uns Zeit und Raum und lenken unsere Aufmerksamkeit mehr nach innen, verändert sich bereits etwas. Denn bewusstes Wahrnehmen ist ein Schöpfungsakt.
Das wichtige dabei ist, wertfrei zu beobachten, was im Inneren geschieht. Bei diesem Beobachten fokussieren wir unsere Wahrnehmung, wir werfen sozusagen das Licht unserer Bewusstheit in die dunklen Räume unserer selbst. Dies ist der erste Schritt auf dem Weg der Schattenintegration. Annehmen, was innen ist – bedingungslos und wertfrei.
Erst durch eine bewusste Schattenintegration wird der Weg zum vollständigen Potenzial des Menschen frei. Jetzt steht auch die nötige Kraft zur Verwirklichung von Lebensträumen zur Verfügung. Sie wurde frei gesetzt, durch die Annahme der ungeliebten Schattenanteile, die vorher verdrängt worden sind. Bei diesem Prozess der Schattenintegration werden immer auch die anderen Mitspieler im Team aufgedeckt, wie zum Beispiel der/die innere Heiler/in und der/die Weise. Sie stehen dann als unterstützende Kräfte für den weiteren Lebensweg zur Verfügung.
Ich habe in meinem Buch "Die Zeit ist reif ...!" dem Schatten und den Umgang damit das größte Kapitel gewidmet. Dabei habe ich meinen eigenen Prozess durch die Ängste hindurch, hinein in die Lebensfreude, beschrieben. Das ist jetzt einige Jahre her und mittlerweile habe ich das Ufer gewechselt. Ich bin über die Brücke der Bewusstheit von der Schattenseite des Lebens auf die Sonnenseite gelangt und führe mittlerweile ein sehr freies und freudvolles Dasein.
Auszug aus meinem Buch „Die Zeit ist reif ...!“
Existenzangst und andere schwarze Gesellen ans Licht
Tagebucheintrag Anfang Juni
Die Zeit ist reif dafür, Licht ins Dunkle, ins Unerlöste zu bringen. Ich stelle mich, höre auf davonzulaufen, mich abzulenken, mir die Zeit zu vertreiben, mich zu zerstreuen. Der Wunsch, frei zu werden für das Leben und meiner Seele noch mehr Gehör zu schenken, gewinnt die Oberhand. Ich übergebe die Führung und erbringe das Opfer, das darin besteht, vieles loszulassen, von dem ich einst dachte, es sei für mich wichtig. Ich lasse Altgewohntes los, hinterfrage Sicherheiten und gewähre meinem höheren Selbst einen Vertrauensvorschuss.
Die Angst ist mir ganz nah. Sie sitzt mir im Nacken. Sie drängt mich dazu, mich in Aktivitäten zu verlieren. Auf diese Weise spüre ich sie nicht mehr. So habe ich es immer gemacht. Mein ganzes Leben lang hat sie mir im Nacken gesessen und hat mich an unsichtbaren Fäden dirigiert und mein Verhalten bestimmt.
Wie eine Marionette habe ich reagiert, bin im Kreis gelaufen, gefangen in der Entwicklung. Jetzt sitze ich hier und habe mich dafür entschieden, es dieses Mal anders zu machen. Mich nicht in Aktivitäten zu flüchten.
Vielmehr stelle ich mich meiner Angst. Ich spüre sie in meinem Körper. Es ist ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ich spüre diesem Gefühl nach. Lasse es ganz intensiv werden, um es definieren zu können. Es zeigt mir meine Hilflosigkeit, meine Ohnmacht. Ich fühle mich ausgeliefert, habe Angst davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Meine Existenz ist bedroht.
Hoffnung war in meinem Leben immer ein Rettungsboot. Sie hat mich über Wasser gehalten, so dass ich nicht zugrunde gegangen bin, mir den Urgrund nie genau angesehen habe. So habe ich mich immer über Wasser gehalten. Die Hoffnung hat mich über viele Hürden in meinem Leben hinweg getragen, ohne letztendlich wirkliche Befreiung gebracht zu haben.
Die Angst kam immer wieder zurück. Wie bei der Wellenbewegung im Ozean, die Welle kommt und geht. Doch dieses Mal reicht die Tragfähigkeit meiner Hoffnung nicht mehr aus. Ich entscheide mich dafür, auf die Hoffnung zu verzichten, um endlich sicheren Boden unter den Füßen zu gewinnen.
Diese Ebene des Seins, die ich anstrebe, kann über die Hoffnung nicht erreicht werden. Hier ist eine aktive Seinsanstrengung erforderlich. Dieser Weg bedeutet, dass wir uns selbst und unseren tief verwurzelten und immer wieder verdrängten Ängsten stellen, um innere Freiheit und inneren Frieden zu erlangen.
Dieser Weg beinhaltet auch, unserem Selbst zu begegnen und mehr und mehr Vertrauen darin zu finden – wahres Selbstvertrauen. Das Selbst kann nur im Gegenwärtigsein gefunden werden. Im Hier und Jetzt. Dafür ist es erforderlich, dass der Verstand zur Ruhe kommt und sich das Tor in die neue Seinsebene öffnen kann. Um in dieses Jetzt zu finden, ist es wichtig, es bedingungslos anzunehmen, mit allem, was gerade ist.
Die Umgebung, die Geräusche, Gerüche usw. Wenn wir das Jetzt so annehmen, wie es sich uns im Moment zeigt, und unser Verstand das Bewerten und Urteilen lässt, weitet sich das Jetzt zu einem größeren Zeitraum. Die Existenzangst hat hier keinen Platz mehr. Diese Angst hat nur Macht über uns, wenn wir außer uns sind, wenn wir nicht in der Gegenwart leben. Wenn unsere Gedanken in die Vergangenheit schweifen, öffnen sie der Angst das Tor, lassen wir sie in die Zukunft fliehen, haben die Sorgen Zutritt bekommen.
Meine Angst ist kleiner geworden. Durch das Schreiben bin ich in die Gegenwart gerückt, bin ich zentriert in mir selbst. Ich schöpfe von innen nach außen und finde dabei Erleichterung. Immer stärker verspüre ich den Wunsch in meinem Herzen, aus dem Gedankenkarussell auszusteigen. Frei werden vom reißenden Gedankenstrom, um hineinzugleiten in den Strom des wahren Lebens, so wie ich es in meinem Traum erlebt hatte.
Alles loslassen, den Kampf beenden, sich vertrauensvoll dem hingeben, was ist. Alles annehmen, was ist. Bedingungslos. Ohne Urteil, ohne Bewertung, ohne zu erhöhen oder zu erniedrigen. Ich weiß: Leben ohne Sorge – ohne Angst - ist nur im Hier und Jetzt möglich. Ich reiche meiner Angst die Hand, biete ihr an, angenommen zu werden. Sie ist zaghaft, möchte mich warnen, um mich zu beschützen.
Ich reiche ihr weiterhin die Hand und hole sie von hinten nach vorne. Setze sie auf meinen Schoß und halte sie sanft geborgen in meinen Armen. Die nackte Angst sitzt hier vor mir. Ich lasse sie spüren, dass ihre Aufgabe jetzt beendet ist. Sie kann sich jetzt ausruhen und schlafen. Mein Selbst übernimmt die Führung und den Schutz für mein Leben. Ich stelle mich zur Verfügung.
Die Angst ist eingeschlafen und liegt nun in meinem Schoß. Vielleicht erwacht sie noch ein paarmal und setzt sich mir erneut in den Nacken, dann hole ich sie wieder hervor, lege sie in meinen Schoß und wiege sie in den Schlaf. Die Hoffnung war nur das Rettungsboot, solange ich das sichere Ufer noch nicht erreicht hatte. Jetzt kann auch sie sich transformieren und zur Gewissheit werden.
Herzlichst
Bianka Maria Seidl