Heirate Dich selbst -
sei bitte egoistisch - Teil 2.
von Veit Lindau -
Sei bitte egoistisch.
Wer in seiner Kindheit kein gesundes Ego aufbauen konnte, steht als Erwachsener entweder auf Kriegsfuß mit seinen Bedürfnissen oder er kennt sie gar nicht.
Wenn Du das Gefühl hast, auch Du hättest Nachholbedarf auf diesem Gebiet, dann nimm Dir als erstes Zeit, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Dein Ego überhaupt ist. Gib Dich dabei nicht mit Erklärungen zufrieden, die gut klingen, aber in Wahrheit keinerlei Bezugspunkt zu Deinem Leben haben.
Ich meine damit Sätze wie: „Das Ego ist nur eine Illusion“, oder „Töte Dein Ego, dann bist Du frei“.(*)
Erarbeite Dir eine Definition, die Dir konkrete, praktische Ansatzpunkte für Deinen Alltag liefert.(**)
Hier stelle ich Dir als kleine Anregung meine eigene Kurzdefinition des Egos vor, die mir hilft, im Alltag achtsam und mitfühlend mit meinen Egostrukturen umzugehen:
Mein Ego ist eine begrenzte Ansammlung von Denk-, Fühl- und Verhaltensstrategien, die von meinem Verstand mit einem einzigen Ziel entwickelt worden sind: Das optimale Überleben eines Fleischklöpschen (***) zu sichern.
Außerdem möchte ich Dir empfehlen, mit der Tatsache Frieden zu schließen, dass Du ein Ego haben wirst, solange Deine Seele wertvolle Erfahrungen in einem Fleischklöpschen macht.
Wenn in Deiner Kindheit einige existentielle Bedürfnisse nicht gestillt worden sind, ist das ärgerlich, aber erstens ist es vorbei und zweitens kannst Du es jetzt ohne Drama nachholen.(****)
Dafür sind die intimen Beziehungen in Deinem Leben da. Lebendige Beziehungen besitzen die Macht, Dich völlig überraschend an Deinen wunden Punkten zu berühren und Dich damit auf unerfüllte Bedürfnisse hinzuweisen. Das ist gut so, denn Du bist hier, um Dich zu vervollständigen. Kämpfe nicht gegen diese Menschen, sondern achte sie. Sie sind Deine Zen-Meister, Deine Heiler, Deine Befreier.(*****)
Um eine angeknackste Egozentrik zu kurieren, ohne Deine Umgebung massiv zu belasten brauchst Du Bewusstheit, Kommunikation und Humor. Die Intelligenz des Lebens strebt nach Ausgleich und Heilung.
Solange bestimmte Aspekte Deiner Persönlichkeit unerlöst in den Kreisläufen Deiner Vergangenheit parken, werden sie Deine vertrauten Beziehungen immer wieder nutzen, um sich zu zeigen.
Sie werden anklopfen und fragen: „Hallo, hier ist ein kleiner Junge, der sich von seinem Vater nie richtig geliebt fühlte. Darf er sich jetzt endlich einmal in Ruhe zeigen?“ „He, hier ist ein kleines Mädchen, das gerade rot sieht. Es hat Angst, schon wieder einen geliebten Menschen zu verlieren, wie damals, bei der Scheidung seiner Eltern. Kannst Du es in seiner Panik halten?“
Die Kunst liegt darin, diese Aspekte Deines Wesens nach und nach zu erlösen, ohne ihnen dabei das ganze Spielfeld zu überlassen. Stärke den Zeugen in Dir, jene reflektierende Instanz, die alles, was geschieht, einfach nur unbeteiligt beobachtet. Es ist wichtig, die emotionalen Wellen in Dir zu fühlen, ohne sie Deiner Umgebung zum Vorwurf zum machen.
Erforsche, wenn Du einen karmischen Treffer (******) abbekommst, aufmerksam, welche Emotion gefühlt und welches Bedürfnis erfüllt werden möchte. Oft bemerken wir nur, dass wir gerade angespannt sind oder uns unwohl fühlen, aber wir wissen nicht weshalb.
Die Meditation: „Gefühle heilen und Bedürfnisse erforschen“ auf der beiliegenden CD hilft Dir, in solchen Momenten Verantwortung für Dich zu übernehmen und zu verstehen, was gerade in Dir passiert und was Du wirklich brauchst.
Herzlichst
Veit Lindau
Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch "Heirate dich selbst" von Veit Lindau.
(*) Ich habe manchmal Kontakt zu spirituellen Kreisen, in denen auf eine Weise vom Ego gesprochen wird, dass unweigerlich der Eindruck entsteht, dieses Ding müsse ein ruchloses, perfides Monster sein. Frage ich nach, was das Ego denn eigentlich sei, bekomme ich oft nur Plattitüden zu hören.
(**) Hilfreich sind in diesem Zusammenhang auch die folgenden Bücher: Integrale Spiritualität von Ken Wilber und Jetzt von Eckhart Tolle. Und eine solide live-Erforschung des Themas bieten unsere Enneagramm-Seminare.
(***) Den Begriff Fleischklöpschen verdanke ich meinem Zen-Meister Eli. Das Wort ist ein Synonym für das Wunderwerk unseres physischen Körpers, welcher uns hier auf Erden unendlich schöne Erfahrungen und wertvolle Lektionen ermöglicht. Ich verwende diese saloppe Bezeichnung, um unsere Tendenz zur Eitelkeit auszubalancieren.
(****) Ich glaube nämlich nicht, dass jeder unerfüllte Erwachsene auf die Therapie-Couch muss. Bei schweren Neurosen ist dies durchaus empfehlenswert, doch generell bin ich ein großer Fan davon, den normalen Alltag zu nutzen, um peu a peu die Vergangenheit zu komplementieren und das eigene Ego zu konsolidieren.
(*****) Als ich Andrea und ihrer damals dreijährigen Tochter Leona begegnete, war von Beginn an klar, dass dieser herzhafte, wunderschöne Doppelpack über eine karmische Blankovollmacht verfügt, die tiefsten Schichten meiner Seele zu erschüttern. Nie zuvor habe ich mich in einer Beziehung so geliebt und abgelehnt gefühlt. Zu Beginn begegnete ich diesem Heilungsprozess ziemlich unreif. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut an eine Situation, als wir zu dritt an einem wunderschönen karibischen Strand saßen und ich mich mit Leona (einem kleinen Mädchen!) verbittert um den letzten Riegel Mars stritt, der auf dem Tisch lag. Aus dem erwachsenen Mann brach ein dreijähriger Junge hervor, der sich nicht genug geliebt fühlte. Damals verstand ich nicht, was geschah. Auf einer tiefen Ebene ging es nicht mehr um die Süßigkeit, sondern um all die Situationen in meiner Kindheit, in denen ich mich nicht genug gesehen gefühlt hatte. Ich lebte diese Regression unreflektiert aus und schämte mich im Nachhinein sehr dafür. Meine Tochter hat es mir später mit Freude heimgezahlt: Sie schenkte mir zu meinem 40. Geburtstag 40 Marsriegel. Auf der Glückwunschkarte stand: „Damit Du nie wieder darum kämpfen musst.“
(******) „Karmische Treffer“ nenne ich es, wenn eine Situation so starke Reaktionen in Dir auslöst, dass sie ganz offensichtlich nichts mit der Gegenwart zu tun haben.