Praxis des Holotropen Atmens.
von Dr. Sylvester Walch -
Das holotrope Atmen wird zumeist in Gruppen durchgeführt, kann aber auch im Einzelsetting angeboten werden. Im Zusammenspiel von beschleunigter Atmung (Hyperventilation), unterstützender Musik und prozessorientierter Körperarbeit werden die Grenzen des empirischen Alltagsbewusstseins geöffnet und psychische Barrieren überwunden, um bedeutsames seelisch-geistiges Material freizusetzen.
Eine Atemsitzung findet in einem speziell vorbereiteten Gruppenraum statt. Er ist etwas abgedunkelt und Arbeitsinseln mit Matten, Kissen, Decken, etc. sind vorbereitet. Die Gruppenmitglieder – etwa zwischen 16–30 Personen – haben sich in Paaren zusammengefunden: jeweils ein Erfahrender und ein Begleiter.
Die Rollen werden dann in der nächsten Atemsitzung gewechselt. Der Begleiter oder Sitter hat die Aufgabe, darauf zu achten, dass sich der Erfahrende, der mit geschlossenen Augen in einem Trancezustand auf dem Rücken liegt, sicher fühlen kann, insbesondere bei intensiven emotionalen Regungen, heftigen Bewegungen und starkem körperbetonten Ausdruck. Er gibt auch nährenden Beistand oder kraftvollen Widerstand, je nachdem, was der Erfahrende braucht. Es kann aber auch sein, dass er während der ganzen Sitzung ruhig und aufmerksam danebensitzt. Sitter berichten immer wieder, dass im Dienen und Helfen ihr eigener Prozess sinnvoll ergänzt wird.
Zu Beginn der Sitzung – die Erfahrenden liegen also mit geschlossenen Augen auf dem Rücken – wird eine Entspannungsübung durchgeführt, um sich leichter öffnen zu können. Am Ende dieser Übung werden die Teilnehmer aufgefordert, dynamischer zu atmen und alles zuzulassen, was sich an Körpergefühlen, Bildern, Tönen und Bewegungen einstellt.
Die Beeinflussung des Atemrhythmus wurde von alters her in den unterschiedlichsten Mysterienschulen praktiziert, um tiefere Selbsterkenntnis zu erlangen.
In der Geschichte der Psychotherapie hat uns vor allem Wilhelm Reich (vgl. 1978) darauf aufmerksam gemacht, dass sich Widerstände gegen bedrohliche psychische Inhalte über die Verflachung des Atems aufbauen.
Umgekehrt kann schnelleres Atmen Blockaden beseitigen, das Erleben erweitern und intensivere Gefühle evozieren. Das EEG zeigt in der Hyperventilation vorwiegend Theta- und Deltawellen, die nach dem Hirnforscher Johannes Holler (vgl. 1991) auf die Aktivierung von Selbstheilungskräften und visionären Fähigkeiten hinweisen.
Das Holotrope Atmen erhöht einerseits die Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn und lockert andererseits hemmende Faktoren, die normalerweise für die adäquate Informationsverarbeitung zuständig sind.
Der Prozess wird durch evokative Musik noch weiter intensiviert. Im ersten Teil der Atemsitzung werden eher schnellere Rhythmen, wie Trommelmusik, gespielt, um die Dynamik des Atmens zu unterstützen. Daran anschließend sollen dramatische Stücke, klassischer oder ethnischer Prägung sowie Filmmusik, Durchbrüche erleichtern. Im letzten Drittel hilft integrierende, langsame oder spirituelle Musik beim allmählichen Zurückkommen.
Musik fördert Bewegung, Dynamik, Kreativität und Ruhe. Sie öffnet die individuellen und kollektiven Archive des Menschen, macht Spannungen deutlicher, löst inneres Chaos in dynamischer Weise auf und lässt verborgene Harmonien hervortreten. Die Musik suggeriert nicht Inhalte, sondern vertieft und verstärkt den Erfahrungsverlauf, indem bedeutsame Szenen, Bilder und Zustände prägnanter werden.
In der Gruppe baut sich ein dynamisches Atemfeld auf, ein gemeinsamer Erfahrungsraum, aus dem heraus individuell ganz unterschiedliche Eindrücke verarbeitet werden.
Der eine atmet laut, schreit oder führt starke Bewegungen aus, ein anderer geht tief nach innen und wirkt ganz „weit weg“. Auch wenn, von außen betrachtet, die Szenerie äußerst fremdartig oder dramatisch anmutet, werden nur Erfahrungen zuteil, die ohnehin latent vorhanden sind. Die veränderten Bewusstseinszustände mobilisieren das Unbewusste, wodurch tiefsitzende Spannungen energetisch aufgeladen werden. Durch die kathartische Entladung wird das psychische Gesamtsystem entlastet, auch wenn vielleicht die inhaltlichen Zusammenhänge im Moment noch unzureichend verstanden werden.
Dabei können plötzlich Verschiebungen von einer pathologischen Dynamik zu einer heilsamen positiven Selbstorganisation stattfinden, nach Sheldrake (vgl. 1991) eine Verschiebung von Krankheitsfeldern zu Ganzheitsfeldern.
Die mögliche Kritik einer sekundären Traumatisierung trifft meines Erachtens nicht zu, da die Gesamtsituation auf Sicherheit, Ausdruck, Integration (kognitive Verarbeitung) und Heilung ausgerichtet ist. Das holotrope Atmen öffnet zudem die Ressourcenspeicher und aktiviert die Selbstheilungskräfte, wie schon weiter vorne erwähnt wurde, sodass abgespaltene Anteile der Psyche integriert werden können.
Im holotropen Bewusstseinszustand verlagert sich natürlicherweise die Regie von der kognitiven Vorherrschaft auf die tiefer liegende Kraft der inneren Weisheit. Die Person, das Ich, nimmt mehr die Position des Zeugen der Erfahrung ein und überlässt die Aktivität dem inneren Geschehen.
Die Zensur, Kontrolle und andere Abwehrmechanismen sind stark gelockert, sodass flüssig, assoziativ und spontan fluktuierendes Material aus tieferen Schichten der Seele ins Bewusstsein strömt. Es ist eine Trance, vergleichbar mit kraftvollen Traumsequenzen, in der sich kaleidoskopartig Assoziationen verdichten, Bilder ablaufen und zugehörige Körperresonanzen einstellen.
Tiefsitzende Spannungen und konfliktbehaftete Anteile der Psyche werden durch das Holotrope Atmen so heftig aufgeladen, dass sie von der Peripherie des Unbewussten in das Bewusstsein drängen. Dabei kann es auch zu äußerst authentischen Regressionen bis zum Beginn des Lebens kommen.
Früher dachte man, dass die Erinnerungsspuren von Erwachsenen maximal bis ins zweite Lebensjahr zurückreichen. Heute geht man sogar von vorgeburtlichen Erinnerungsspuren aus, auf die wir normalerweise keinen Zugriff haben. Zudem scheint man über diese impliziten Gedächtnisstrukturen auch Zugriff auf das kollektive Unbewusste sowie die Kultur-und Menschheitsgeschichte zu haben. Das Zeitbewusstsein der Erfahrenden ist verändert, die Denkprozesse sind bildhafter, ganzheitlicher und weniger zerlegend; die Emotionen sind fließender, runder und weniger blockiert. Die körperlichen Empfindungen sind direkter und lösen schneller die dazu passenden Vorstellungen und Bilder aus.
Die Gruppenleiter gehen während einer Atemsitzung aufmerksam durch den Raum und unterstützen zunächst durch ihre innere Haltung die Gesamtatmosphäre. Sie sind Teil einer größeren Einheit und Assistenten der inneren Weisheit. Sie sind nicht Schöpfer des Prozesses, sondern dessen Helfer, ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes Therapie, der vom Griechischen Therapeia kommt und mit „dienen und heilen“ übersetzt werden kann. Gemäß Stanislav Grof (1993, S. 284) orientiert sich der Gruppenleiter vor allem an dem, was sich zeigt. Dabei relativiert er seine eigenen Heilungskonzepte zugunsten der selbstregulatorischen Kräfte. Er führt aus: „Der Therapeut ist kein aktiv Handelnder, der die Veränderungen im Klienten durch bestimmte Interventionen verursacht, sondern jemand, der intelligent mit den inneren Heilungskräften des Klienten kooperiert.“
Die Gruppentherapeuten übernehmen einerseits eine steuernde und schützende Funktion in der äußeren Realität, andererseits wirken sie durch Zentrierung, Resonanz, Intuition und Spontaneität. Sie werden dann aktiv, wenn etwa der zu Begleitende oder der Sitter den Therapeuten ruft, bei Aggressionsausdruck Widerstand erforderlich ist oder nährende Unterstützung gesucht wird.
Die Körperarbeit führt den inneren Prozess über Blockierungen hinweg, fokussiert das Erleben und ermöglicht dadurch den Ausdruck zurückgenommener Impulse. Chronifizierte Spannungen, die häufig zu Stagnationen und einem Gefühl des Feststeckens im Leben führen, lassen sich damit auflösen und integrieren.
Im holotropen Atmen wird auch davon ausgegangen, dass der menschliche Körper nicht nur stofflich aufgebaut ist, sondern von feinstofflichen Atmosphären und Energieströmen durchdrungen ist. So wird auch die Körperarbeit weitgehend als Energiearbeit, die den Menschen wieder in Fluss bringt, verstanden.
Eine Atemsitzung dauert in der Regel drei bis vier Stunden. Am Ende, wenn der Erfahrende zurückkommt und sich in Ordnung fühlt, verarbeitet er seine Erfahrungen noch mithilfe des „intuitiven Malens“, das einerseits die inneren Bilder widerspiegelt, aber auch auf einer symbolischen Ebene zu einer weiteren Integration des Erlebten beiträgt.
Die Erfahrenden verlassen dann einzeln den Raum, wenn für sie der Prozess wirklich abgeschlossen ist. Das heißt in der Konsequenz, dass es keine festgelegten Zeiten gibt, wann eine Atemsitzung fertig ist. Der Erfahrende kann sogar Schaden davontragen, wenn er durch den Gruppenleiter zu früh aus dem Prozess herausgeholt wird. Denn, was begonnen wurde, soll auch sein organisches Ende finden können.
Die Erfahrungen aus den Atemsitzungen werden später oder am nächsten Tag in der Gruppe besprochen, sodass das Erlebte verstanden und sinnvoll auf den Alltag bezogen werden kann.
Im Vordergrund steht dabei das intuitive Verstehen, weniger das Erklären oder Interpretieren. Was sagt mir die Erfahrung im Augenblick? Mit welchen gelebten oder ungelebten Aspekten könnte sie im Zusammenhang stehen? Wie ist die Einstellung zu meiner Erfahrung? Welche Symbole auf dem Bild sprechen mich an und welche stoßen mich ab? Was könnten sie für mich bedeuten usw.?
Dabei ist es wichtig, Geduld aufzubringen, wenn Unklares und Unverstandenes zurückbleibt, denn es kann manchmal Monate dauern, bis sich eine Erfahrung vollständig enthüllt. Die Bedeutung der Erfahrung wird dann häufig noch durch ergänzende Erlebnisse, Träume, äußere Ereignisse und Gespräche klarer. Die Aufarbeitung ist wie ein gemeinsames „kreatives Puzzlespiel“, in dem sich vielfältige Sinnhorizonte eröffnen und eine tief greifende Bewusstwerdung dessen, was Leben ist, deutlicher wird.
Zwei Richtungen haben sich im Holotropen Atmen herauskristallisiert. In den USA wird das Holotrope Atmen vor allem im Sinne einer erweiterten Selbsterforschung durchgeführt. Deshalb sind dort die Gruppenleiter zum großen Teil auch Laien, die zwar im Holotropen Atmen ausgebildet wurden, aber sonst keine klinische oder psychotherapeutische Grundausbildung absolviert haben.
Hierzulande wird das Holotrope Atmen zwar auch als Selbsterfahrung angeboten, das therapeutische Anliegen steht jedoch im Vordergrund. Dem wird auch der Österreichische Arbeitskreis für Transpersonale Psychotherapie gerecht, der eine Weiterbildung im Holotropen Atmen anbietet. Das vom Österreichischen Berufsverband für Psychotherapie anerkannte Curriculum ist darauf ausgerichtet, aufbauend auf einer psychotherapeutischen Grundausbildung, die speziellen therapeutischen und klinischen Kompetenzen im Umgang mit veränderten Bewusstseinszuständen zu vermitteln.
Im deutschsprachigen Raum hat der Autor die Ansätze von Stanislav Grof in Richtung therapeutischer Anwendbarkeit ergänzt und weiterentwickelt. In seinen Büchern „Dimensionen der menschlichen Seele“ (vgl. Walch, 4. Aufl. 2009) und „Vom Ego zum Selbst“ (vgl. Walch, 2011) wurden insbesondere die Konzepte des Selbst, Ich und Egos mit den Ansätzen moderner klinischer Psychotherapie verknüpft und eine Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Bewusstseinstranszendenz zur besseren Einordnung vorgenommen.
Im kommenden Beitrag erfahren Sie mehr zum Thema "Erfahrungsebenen im holotropen Atmen".
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch
Literaturliste
Grof, Stanislav: Das Abenteuer der Selbstentdeckung. München 1987. Kösel.
Grof, Stanislav: Die Welt der Psyche. München 1993. Kösel.
Grof, Stanislav: Geburt, Tod und Transzendenz. München 1985. Kösel.
Holler, Johannes: Das neue Gehirn. Südergellersen 1991. Bruno Martin.
Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Frankfurt a. Main 1978. Fischer.
Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur. Bern München Wien 1990. Scherz.
Sheldrake, Rupert: Die Wiedergeburt der Natur. Bern/ München/ Wien 1991. Scherz.
Walch, Sylvester: Dimensionen der menschlichen Seele. Transpersonale Psychologie und Holotropes Atmen. 4. Aufl. Düsseldorf 2009. Patmos.
Walch, Sylvester: Vom Ego zum Selbst. München 2011. Drömer Knaur.