Erfahrungsebenen im holotropen Atmen.
von Dr. Sylvester Walch -
Holotropes Atmen - Erfahrungsebenen.
Stanislav Grof hat herausgefunden, dass die seelische Struktur, wie auch gesunde und kranke Entwicklungsverläufe, nicht allein durch biografische Erfahrungen geprägt ist. Deshalb entwarf er eine neue Kartografie der Psyche (vgl. Grof, 1987 u. 1993).
Nach heutigem Erkenntnisstand (vgl. Walch, 2009) können die strukturbildenden Einflüsse auf die menschliche Psyche, wie sie sich in holotropen Atemsitzungen zeigen, in folgenden Dimensionen zusammengefasst werden:
a) Die psychodynamisch – biografische Ebene. Sie beinhaltet lebensgeschichtliche Erfahrungen, wie man sie auch aus der traditionellen Psychotherapie kennt. Im Unterschied zu gesprächsorientierten Therapien werden im Holotropen Atmen beispielsweise belastende Lebensereignisse direkter, intensiver und leibhafter erlebt.
b) Die perinatale Ebene, also Erfahrungen rund um die Geburt, ist deshalb so wichtig, weil sie einen einschneidenden Übergang in der Entwicklung des Menschen darstellt.
Im holotropen Bewusstseinszustand können unverarbeitete Geburtserfahrungen wieder erlebt werden. Das kann auch in einer dramatischen Weise erfolgen. So kann es plötzlich zu Erstickungsgefühlen, Todesängsten, Überlebenskämpfen sowie Visionen von Dunkelheit oder Eingeschlossensein kommen.
Die massive Konfrontation mit Tod- und Wiedergeburtsprozessen, vor allem beim Durchschreiten der perinatalen Matrizen (vgl. Grof, 1985), kann auf das Leben eine sehr positive Wirkung haben, weil tiefe Ängste abgebaut werden.
Geburt und Tod als symbolische Wandlungs-, Durchgangs- und Entwicklungsschritte können besser verstanden und in den Alltag integriert werden. Nach dem intensiven Durchleben von Geburtserfahrungen kommt es häufig zu Lichtvisionen und dem Gefühl totaler Befreiung.
Geburtsphänomene können auch mit den Themen Tod, Sexualität und Spiritualität gekoppelt sein. Auch wenn Grof vielleicht das Geburtserleben im Verhältnis zu den anderen natürlichen Wachstumskrisen etwas überbetont hat, können wir davon ausgehen, dass die Geburt ein mächtiger Wendepunkt in der menschlichen Existenz ist, der bedeutsame Hinweise auf unsere Lebensmuster geben kann.
c) Die pränatale Erfahrungsebene kann bis zur Zeugung zurückreichen. Nicht nur die Geburt, sondern auch die einzelnen Entwicklungsschritte im Mutterleib sind so einzigartig, dass es einem Wunder gleichkommt.
Wenn wir uns nur vorstellen, dass nach drei Wochen das Herz zu schlagen beginnt und nach acht Wochen sämtliche inneren und äußeren Organe angelegt sind.
Dies ist wiederum nicht nur ein rein physiologischer Prozess, sondern auch ein seelischer.
Ein Seminarteilnehmer erlebte beispielsweise seine eigene Herzbildung mit. Danach fühlte er sich von frei fließender Liebe überschwemmt. Aber auch schwerwiegende negative Erlebnisse, etwa ein Tritt in den Bauch der Mutter während der Schwangerschaft, können erinnert und im geschützten Rahmen der Sitzung heilsam integriert werden.
d) Außergewöhnlich mannigfaltig scheint auch die kollektive und transpersonale Erfahrungsebene. So kann es vorkommen, dass man sich plötzlich außerhalb des Körpers erlebt, durchs All fliegt, verstorbenen Angehörigen begegnet, sich als Teilnehmer eines schamanischen Rituals in Peru identifiziert oder zitternd in einem nasskalten mittelalterlichen Folterkeller liegt.
Im veränderten Bewusstseinszustand wird die personale Identität erweitert, sodass man sich in anderen Orts- Zeit- und Kulturräumen bewegen kann. Auch außersinnliche Wahrnehmungen, wie Präkognitionen oder Hellsehen, werden geschildert. Einmal hat jemand in der Atemsitzung seinen Vater liegend in der Computertomografieröhre gesehen, und als er heimkam, stellte sich heraus, dass der Vater genau zu diesem Zeitpunkt einen Hirnschlag erlitt.
e) Über die transpersonale Ebene hinaus können auch spirituelle Ebenen, in denen man sich von einem größeren Ganzen getragen fühlt, zugänglich werden. Das kosmische Bewusstsein durchströmt den Menschen, begleitet von intensiven Gefühlen der Liebe, des Glücks, der Demut und der Hingabe. Man wird davon tief bewegt und bekommt Antworten auf existenzielle Fragen.
Wie man sich heute erlebt, ist also das Ergebnis von vielen Einflüssen. Wenn diese bewusst und zu sich selbst gehörig wahrgenommen werden können, hat das eine ausgesprochen heilsame Wirkung.
Wer sich auf das holotrope Atmen einlässt, kommt ohne ein tiefes Vertrauen in das, was geschieht, also in die grundsätzliche Sinnhaftigkeit des inneren Prozesses, nicht aus.
Deshalb stützt es sich auf die Idee einer innewohnenden Selbstorganisationstendenz, die in tiefen Transformationsprozessen die Regie übernimmt. Dieser universale Selbstaspekt, auch innere Weisheit genannt, ist also eine übergeordnete Instanz, die die Entwicklung des Individuums steuert und es gleichzeitig über sich selbst hinausführt.
Indem die weiten Räume der Seele erschlossen, das Unbewusste mobilisiert und die Wirkkräfte der Inneren Weisheit zugelassen werden, kann der Mensch zu sich selbst durchbrechen und der werden, der er wirklich ist.
Herzlichst
Dr. Sylvester Walch
Literaturliste
Grof, Stanislav: Das Abenteuer der Selbstentdeckung. München 1987. Kösel.
Grof, Stanislav: Die Welt der Psyche. München 1993. Kösel.
Grof, Stanislav: Geburt, Tod und Transzendenz. München 1985. Kösel.
Holler, Johannes: Das neue Gehirn. Südergellersen 1991. Bruno Martin.
Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Frankfurt a. Main 1978. Fischer.
Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur. Bern München Wien 1990. Scherz.
Sheldrake, Rupert: Die Wiedergeburt der Natur. Bern/ München/ Wien 1991. Scherz.
Walch, Sylvester: Dimensionen der menschlichen Seele. Transpersonale Psychologie und Holotropes Atmen. 4. Aufl. Düsseldorf 2009. Patmos.
Walch, Sylvester: Vom Ego zum Selbst. München 2011. Drömer Knaur.