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Wozu soll das Böse gut sein?
Täglich werden wir in reichem Masse darüber informiert, dass es das so genannte Böse gibt. Die meisten Seiten unserer Zeitungen und Zeitschriften blieben weiss, die meisten Romane wären ungeschrieben und die Nachrichten im Fernsehen wären sehr kurz, gäbe es das Böse nicht. Das Böse interessiert uns, ja es macht uns sogar heiß – das Verbrechen, der Betrug, der Mord, die Hinrichtung, das Massaker, die Vergewaltigung, der Raub, die Brandstiftung, die Machtübernahme, die Niederlage – all das, dieser schön-schaurige Potpourri des Bösen: Es interessiert uns nicht nur, es erregt uns, wenn wir sagen: „Das ist ja unglaublich! Ist das nicht schrecklich!“ Es hat so eine schreckliche Nähe zu Lustvollem.
Als Böse bezeichnen wir im allgemeinen erst mal das, was ich meiner Meinung nach nicht bin und nicht sein will. Wir sagen uns: Ich will nicht böse sein, ich will gut sein. Ich bin nicht böse, ich bin gut – vielleicht nicht immer, aber immer öfter. Also sagen wir: Böse sein ist falsch und gut sein ist richtig. Böse, wirklich böse sind in unseren Augen immer die anderen. Jeder hat so seine speziellen Gruppen, die besonders die Bösen repräsentieren. Böse ist zunächst einmal eine Bewertung, die eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft offen oder stillschweigend vereinbart hat und die der einzelne Mensch bewusst oder unbewusst übernommen hat. Böse ist also ein Werturteil, das wir zur Unterscheidung in unserem täglichen Leben benutzen. Wir, d.h. jeder von uns, unterscheidet, d.h. wir trennen zwischen uns und den anderen, den guten und den schlechten, denen die richtig sind und denen die falsch sind.
Was böse ist, das lernen wir alle sehr, sehr früh. Wir erinnern Sätze wie: Du willst doch kein böser Junge, kein böses Mädchen sein? Das haben wir alle oft gehört. Nicht nur fünfmal und nicht nur zehnmal. „So etwas tun nur böse Kinder.“ Böse sein heißt, so lernten wir von früh auf, wie es die anderen, hier z.B. unsere Eltern nicht haben wollen. Nicht folgen, mich nicht anpassen, meinen eigenen Weg gehen, eigenwillige Entscheidungen treffen, das ist das, was wir als erstes lernen: Das ist böse und nicht gut.
Im Außen gelingt uns das leicht, das Böse, Schlechte, Falsche zu beobachten, ihm ein Etikett oder einen Stempel aufzudrücken mit einem der vielen verurteilenden Begriffe wie: „Das ist ja schlimm, unmöglich, unverschämt, kriminell, asozial, verrückt, faul, unverfroren, dem sollte man doch…, dem müsste man eigentlich…“. Sie wissen schon. Je unmittelbarer wir in Rage kommen und von diesem Falschen persönlich betroffen sind, desto härter fällt unser Urteil in der Regel aus, desto emotionaler sind wir verstrickt und verwickelt darin. Wird bei mir selbst eingebrochen oder wird mir selbst gekündigt, wird meine Tochter vergewaltigt, dann kocht es am stärksten in uns und Emotionen wie Wut, wie Hass, wie Rache gehen in diesem Moment mit der Verurteilung des anderen, des Einbrechers, der Firma, des Vergewaltigers usw. einher. Wir empfinden uns in diesen Situationen immer als Opfer und beklagen ganz lauthals das Schlechte in der Welt.
Woher kommt die Trennung in gut und böse, in richtig und falsch? Sie stammt zunächst einmal aus dem Bedürfnis nach Orientierung und nach Klarheit. Wir fragen instinktiv: Wo gehöre ich denn hin, oder besser: Wer bin ich? Ich sage, ich bin nicht so, sondern so. Wir trennen also zwischen dem einen und dem andern. Eines der Probleme liegt in diesem Zusammenhang darin, dass wir fast alle Meinungen und Werturteile erstmal unkritisch übernehmen, die wir von der Gesellschaft, also von Lehrern, Eltern, von den Medien, von Chefs, von Pfarrern usw. vorgepredigt bekamen. Wenn wir klein sind, haben wir kaum eine Chance zu sagen: „Also das möchte ich erstmal mit dir diskutieren, Papa.“ Dann sagt er: „So ist die Welt, Fertig. Aus.
Die Begriffe gut und böse, falsch und richtig sind die Urbegriffe der Trennung in zwei Teile. Sie sind sozusagen mein Hilfsmittel um herauszufinden, wer ich jeweils bin, wozu ich mich in meinem Denken und Handeln entscheiden will. Und was gestern noch richtig für mich war, kann heute schon wieder falsch sein. Das muss nicht gleich bleiben. Diese Bewertungen bieten mir also zunächst einmal eine Orientierung und damit eine Sicherheit in meinem Leben.
Wir benutzen die Begriffe gut/böse, richtig/falsch aber nicht nur als Entscheidungshilfen, sondern wir gehen einen entscheidenden Schritt weiter. Wir sagen nicht nur einfach: „Das hier stimmt für mich und das nicht. Ich entscheide mich für A und B interessiert mich nicht.“ Wir gehen viel weiter. Wir verurteilen die andere Seite, die wir nicht wählen. Ja wir gehen nicht selten so weit, sie heftig zu bekämpfen. Wir hassen und wir verfolgen Menschen, die nicht A gewählt haben wie wir, sondern B. Das ist eine merkwürdige Sache. Die Blume mit dem Namen Toleranz blüht in unserer Welt noch nicht sehr häufig.
Am Bewährten ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Wir brauchen Wertmaßstäbe, um unsere Entscheidungen zu treffen und unsern Weg durchs Leben zu finden. Aber wir handeln oft selbst nicht nach diesen Maßstäben. Wir wissen zwar alle sehr genau, welches Verhalten ehrlich oder unehrlich ist, aber wir halten uns selbst nicht immer daran. Häufig erzählen wir unseren Kindern: Du sollst anständig sein usw. Wenn unsere Kinder aber sehen, wie wir sind, wie wir leben, dass wir selber nicht konsequent nach diesen Maßstäben leben, ja was dann? Dann dürfen wir uns nicht wundern, dass unsere Kinder uns nicht unseren Worten folgen. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir unsern Kindern erzählen und dem, was wir leben, ist oft recht groß. Damit verfehlt jedes Wort an unsere Kinder seine gewünschte Wirkung.
Wir sagen nein zum Bösen und ja zum Guten. Und in unserm Bewusstsein tönt es, hier lauter, dort leiser: „Du musst gut sei!“ Aber da du das nicht schaffst, sagt dir dein Unterbewusstsein genauso: „Du bist schlecht, pass auf, dass es niemand merkt.“ Das Böse abzulehnen, zu verurteilen, während wir das Gute annehmen, ist genauso verrückt, als würden wir alles Kalte ablehnen und alles Warme akzeptieren, oder alles Niedrige abweisen und alles Hohe befürworten. Alles in dieser irdischen Welt nehmen wir seit Adam und Eva in Form von Gegensatzpaaren wahr. Ob Tag/Nacht, Sommer/Winter, Schlaf/Wachen, ob Licht und Finsternis, kalt/warm, sanft und grob, rund und eckig, hoch/tief, himmlisch/irdisch, ob oben/unten, Mann und Frau, ob Geist und Materie, alles, egal was Sie wollen, können sie immer einem Gegensatzpaar zuordnen, die zueinander gehören. Das Interessante an all diesen Polaritäten ist, dass das eine anscheinend das andere ausschließt. Das, was rund ist, scheint nicht eckig zu sein. Entweder bist du Mann, oder du bist Frau. Das Interessante ist, dass doch beide gleichzeitig untrennbar zusammen gehören, sich gegenseitig bedingen, ja in Wirklichkeit ein Paar sind. Das eine braucht immer das andere. Lassen sie uns das richtig nachspüren. Das eine macht ohne das andere überhaupt keinen Sinn. Wenn es immer nur hell wäre, dann könnten wir das Hellsein, das Licht überhaupt nicht mehr genießen. Wir würden gar nicht mehr merken, dass es hell ist. Nur weil es die Dunkelheit gibt, spüre ich, kann ich überhaupt wahrnehmen, was hell ist. Erst wenn es dunkel war und hell wird, entsteht der Effekt: „Ah, es wird hell!“ Nur im Unterschied zur Dunkelheit kann ich Helligkeit registrieren. Der Mann ist ohne Frau, die Frau nicht ohne Mann denkbar, weil beide ein Energiewesen mit einer ganz bestimmten Ladung sind, welches das Energiewesen mit der anderen Ladung unbedingt braucht und anzieht. Darum zieht es uns immer wieder zueinander hin, zur Einheit und auch zur Vereinigung. Warum wohl? Das Wesen der scheinbar gegensätzlichen Dinge ist, dass sie von ihrer Natur her zusammen gehören. Wir aber trennen sie im Denken und sagen: „Das eine darf sein, das andere nicht“.
Wir brauchen beide Seiten der Medaille, das Gute und das Böse als Orientierung, um uns entscheiden zu können und um das, was wir wirklich wollen, erkennen zu können. Wir brauchen das so genannte Böse, um uns für das Gute entscheiden zu können. Uns für das Gute entscheiden heißt aber nicht notwendigerweise, das Böse zu verdammen. Das jedoch tun wir in der Regel. Obwohl es auch in uns selbst ist. Denn wir alle haben das so genannte Böse gebraucht, und brauchen es auch heute noch, um zu erkennen, was für uns wirklich gut ist, was ich wirklich will in meinem Leben und was ich nicht will, wozu ich nein sagen kann.
Das Böse lässt sich nicht ausklammern und ausschließen. Es kommt zur Hintertür immer wieder rein, wenn ich dies versuche. Das Böse in uns und im andern will verstanden werden. Es will angenommen, es will geliebt werden, es will umarmt werden, um die Lösung zu finden, um im wahrsten Sinne erlöst zu werden. Ich meine hier das vermeintlich Böse in uns, Energien wie Angst, Wut, Zorn, Neid, Gier usw. – das will in uns und von uns umarmt werden. In dieser Umarmung zeigt sich dann auch der wahre Charakter der beiden Pole, der beiden Gegensätze. Die sind nämlich nicht beide wirklich gleich stark. Unter vielen anderen hat Goethe das Böse, den Teufel in der Rolle des Mephisto so treffend beschrieben. Da sagt Mephisto: „Ich bin ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.“ Hier wird so schön treffend beschrieben, dass das Böse erst das Gute in uns erzeugt, uns erst hinstreben lässt, das Gute zu wollen. Der Schatten in unserem eigenen Bewusstsein, das heißt alles das, was ich ablehne zu sein, wartet – worauf? Auf das Licht, auf das Anschauen und das Annehmen. Das Licht ist wirklich, der Schatten ist nicht wirklich. Der Schatten ist nur die Abwesenheit von Licht, sozusagen das Vakuum von Licht.
Angst und Liebe können sie genauso vergleichen wie Licht und Schatten. Die Angst in uns ist der große Gegenpart zur Liebe. Es gibt letztlich nur ein grosses Gegensatzpaar der Gefühle. Die Liebe und die Angst. Alle anderen sog. negativen Gefühle wie Wut, Zorn, Gier, Neid, Eifersucht basieren alle auf und werden genährt von der Energie der Angst. Hinter jeder Aggression, hinter jeder Wut steckt letztlich nichts als Angst. In jedem aggressiven Menschen, der ihnen entgegen kommt, spüren wir die Angst. Jeder Gewalttäter ist voller Angst.
Und alle schönen Dinge, alle schönen Gefühle sind letztlich nur von Liebe genährt, ob das Toleranz, Unterstützung, Zartheit, Sanftheit, Geduld, Aufmerksamkeit ist, es ist immer die Liebe da. Das bedeutet, dass die Polarität am Ende Angst und Liebe heißt. Und dennoch sind die beiden nicht gleich stark. Denn die Angst ist genau wie die Dunkelheit zum Licht die Abwesenheit von Liebe. Das heisst, die Angst wartet darauf, bejahend gefühlt, angenommen, akzeptiert, umarmt und geliebt zu werden. Sie möchte hören: „Du hast deine Berechtigung. Du darfst da sein.“ Warum sollten wir die Angst lieben? Weil wir sie selbst erschaffen haben in Zeiten der Dunkelheit und der Gefahr und weil sie uns als Energie gedient hat. Sie ist unsere Schöpfung wie alle Energien, unter denen wir leiden. Es sind immer unsere Schöpfungen, wie von uns, ihren Schöpfern gewertschätzt, bedankt und in Liebe entlassen werden wollen. Ohne diesen Akt des Schöpfers können sie nicht gehen. Immer dort, wo die Angst auf die Liebe trifft, kann sie nicht bleiben. Sie verschwindet durch Verwandlung. Liebe ist immer der Transformator.
Zurück zur Frage, wozu soll das Böse gut sein? Es dient, es dient dem Guten. Es ist nicht da, um verurteilt zu werden, sondern um in uns selbst erkannt und angenommen zu werden. Erst dadurch, dass ich die freie Wahl habe, böse zu denken, zu sprechen und zu handeln, kann ich mich auch für einen anderen Weg, für die Liebe entscheiden. Ohne das so genannte Böse würden wir Gutes weder erkennen noch schätzen können. Denn erst das Böse erlaubt mir, gut zu sein.
Es gibt keine bösen Menschen. Es gibt nur Menschen auf der Suche nach sich selbst. Lieben sie alles so genannte Böse in sich selbst oder in einem andern, und sie verwandeln es. Sie werden feststellen: es verschwindet, es löst sich auf. Erwarten sie hier Wunder. Wunder ist das, was der Kopf (noch) nicht versteht.
Überprüfen sie in der nächsten Zeit immer eindringlicher, wen und was sie alles verurteilen. Wozu sagen sie ‚nein’ in ihrem eigenen Leben, in sich selbst, zu welchen Ereignissen, zu welchen Menschen, zu welchen Umständen. Solange wir verurteilen, solange trennen wir Dinge, die letztlich zusammen gehören und verursachen in uns Leid. Fangen sie an, mit allem und allen Frieden zu machen, von dem sie sich bisher getrennt haben inklusive allen Expartnern. Prüfen sie, mit welchen Menschen sie noch im Unfrieden sind und – der entscheidende Akt – vergeben sie, das heisst: nehmen Sie Ihre früheren Verurteilungen zurück. Aber vor allen Dingen, bitte, vergeben sie sich selbst all das, was sie sich so im Laufe ihres Lebens vorgeworfen, vorgehalten haben, mit dem sie hadern, was sie bedauern. Vergeben sie sich ihre ganze Vergangenheit, alle Fehler. Denn Fehler sind menschlich. Vergeben sie sich, dass sie sich bisher für so vieles verurteilt haben und innerlich schlecht behandelt haben. Denn die meisten von uns gehen mit sich selbst sehr unliebsam um. Gott verurteilt sie nicht. Und das Urteil irgend eines anderen Menschen kann ihnen nur dann etwas anhaben, wenn sie dieses Urteil innerlich teilen, das heißt, wenn sie sich selbst verurteilen.
Zum Schluss eines der schönsten Zitate zum Thema „Gut und Böse“ aus dem Buch „Die Stimme des Herzens“ von Safi Nidiaye:
„Wenn das Böse dir gegenüber steht, dann schau ihm fest ins Auge. Schaue solange hin, bis du im Spiegel der Augen deines Feindes dein eigenes Böses erkennen kannst. Und dann ziehe dich zurück. Und schaue deinem eigenen Bösen fest ins Auge. Schaue solange hin, bis du hinter ihm dein verletztes Gutes erkennen kannst. Dann schließe sie beide, das verletzte Gute und das verteidigende Böse so fest in die Arme deines Herzens, wie du kannst und kümmere dich nicht um den Feind. Danke ihm im Stillen und lass ihn seine Wege gehen. Sie werden die deinen nicht mehr kreuzen. Solange du jedoch im Bewusstsein deines Rechts verharrst, wird dein Feind dein Feind bleiben.“ Auf deutsch: Was du bekämpfst, das bleibt, was du annimmst, das verändert sich. „Bist du ein Unschuldiger, dem ein schlimmes Unrecht geschieht, dann wisse, dass dein Peiniger das Böse, das in dir schlummert, für dich zeigt, für dich manifestiert. Es schlummert in dir, weil es niedergehalten wird. Wodurch? Durch dein Gutsein. Und wisse, dass du das Gute, das in ihm schlummert, dass du das für ihn zeigst. Es wird niedergehalten durch sein Bösesein. Beides, niedergehaltenes Gutes wie niedergehaltenes Böses stiftet Unheil. Deshalb erlaube deinem Guten nicht, dein Bösesein nieder zu halten, und deinem Bösesein nicht, dein Gutsein zu unterdrücken. Sei böse, wenn du böse bist und gut, wenn du gut bist. So lebst du in Frieden mit deiner Natur und mit dem Bösen und Guten in der Welt. Tief im Innern herrscht der Krieg, der die Kriege im Äußeren verursacht. Führen Gut und Böse in dir nicht mehr Krieg, wird auch in deiner Welt kein Krieg mehr sein. Dein Böses ist die Waffe und Rüstung deines Guten und dein Gutes die Tarnung und der Schutz des Bösen. Schaust du beides mit den Augen deines Herzens an, so erkennst du sie als das, was sie sind: Natürliche Regungen deines menschlichen Gemüts, weder gut noch böse. Denn das Herz kennt weder gut noch böse. Es kennt nur Berührung oder Nichtberührung. Was es berührt, berührt es in seinem Sosein und wird von ihm verstanden in seinem Sosein. *) Das Herz fühlt und weiß, ohne zu urteilen. Gutes und Böses: Im Theater der Welt treten sie getrennt auf. In Wahrheit sind sie eins. Schaust du unter die Oberfläche, so siehst du das Band der Liebe, das Täter und Opfer vereint.“
*) Hervorhebungen von R.Betz