ZEN - Mensch im Kosmos - 5
von Franz Ludescher
Siddharta
Siddharta bückte sich, hob einen Stein vom Erdboden auf und wog ihn in der Hand. „Dies hier“, sagte er spielend, „ist ein Stein, und er wird in einer bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden, oder Tier oder Mensch. Früher nun hätte ich gesagt: >Dieser Stein ist bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maya an: aber vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und Geist werden kann, darum schenke ich auch ihm Geltung<. So hätte ich früher vielleicht gedacht. Heute aber denke ich dieser Stein ist ein Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dies oder jenes werden könnte, sondern weil er alles längst und immer ist – und gerade dies, dass er Stein ist, dass er mir jetzt und heute als Stein erscheint, gerade darum liebe ich ihn, und sehe Wert und Sinn in jeder von seinen Adern und Höhlungen, in dem Gelb, in dem Grau, in der Härte, im Klang, den er von sich gibt, wenn ich ihn beklopfe, in der Trockenheit oder Feuchtigkeit seiner Oberfläche. Es gibt Steine, die fühlen sich wie Öl oder Seife an, und andere wie Blätter, andere wie Sand, und jeder ist besonders und betet das Om auf seine Weise, jeder ist Brahman, zugleich aber und ebenso sehr ist er Stein, ist ölig oder seifig, und gerade das gefällt mir und scheint mir wunderbar und der Anbetung würdig.
Hermann Hesse