Was hat Schreiben mit Spiritualität zu tun?
von Ulrike Dietmann -
„Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin.“ Rainer Maria Rilke
Was hat Schreiben mit Spiritualität zu tun? Diese Frage habe ich mir vor zehn Jahren nicht freiwillig gestellt. Sie wurde an mich herangetragen – oder besser herangetreten – durch ein Pferd. Ich hatte einen Auftrag für drei Pferderomane erhalten, WOW!!!, und war seit kurzem Besitzerin eines entsprechenden Rechercheobjekts mit vier Beinen.
Zu diesem Zeitpunkt war Spiritualität für mich etwas, das ich unter „weltfremd“ abgehakt hatte, eine Sache für Leute, die zu viel Zeit haben, während meine Minuten und Sekunden vom brutalen Überlebenskampfes einer Autorin in Anspruch genommen waren, die veröffentlicht und bezahlt werden will.
Heute, zehn Jahre später, habe ich beides überlebt, das scheinbar unzähmbare Pferd und den Buchmarkt und habe etwas gelernt, das ich nicht erwartet hätte: Schreiben ist per se ein spiritueller Weg genauso wie das Reiten, das Häkeln oder das Fliegenfischen. Das ist nicht sehr bekannt in unserer Kultur, aber wenn man sich ein wenig umschaut und eins und zusammenzählt ist es evident. Mehr noch, wenn man die eigenen Erfahrungen nimmt und sich fragt, was einen jenseits des bekannten Schreibhandwerks als Autor voranbringt.
Darüber habe ich ein Buch geschrieben: „Heldenreise ins Herz des Autors“. In den Seminaren meiner Pegasus Schreibschule und im Schreibcoaching forsche ich auf diesem Gebiet unaufhörlich, denn es ist überaus faszinierend, fruchtbar und erfolgreich. Was habe ich also gelernt auf dem spirituellen Weg des Autors mit Hilfe meines feurigen Vierbeiners?
PRÄSENZ: Wenn du in den Himmel reitest, sei wachsam.
Im griechischen Mythos des geflügelten Pferdes Pegasus, das auch heute noch als Muse der Dichter gilt, träumt der Held davon, auf dem Rücken des Pferdes in den Olymp zu fliegen. Wie auch wir Autoren ewig auf dem Weg zum Olymp, dem Synonym für Ruhm, Unsterblichkeit, Bestseller, Nobelpreis und göttlicher Inspiration sind. Der Reiter des Pegasus bekommt eines Tages das goldene Zaumzeug in die Hände, sprich: das nötige Handwerkszeug. Damit fliegt er berauscht in den Himmel.
Dann das Drama, das jede gute Geschichte braucht: Eine Mücke sticht sein Pferd ins Ohrläppchen, das Pferd buckelt und Bellerophon fällt. Sehr tief. Die Geschichte geht nicht gut aus, wie die meisten griechischen Mythen. Dafür ist die Lektion tiefsinnig und zeitlos: Wenn du in den Himmel reitest, sei wachsam. Schon eine Mücke kann dich abstürzen lassen.
Wir Autoren kennen das gut: Wir stecken mitten in einem tiefen emotionalen Erlebnis unserer Hauptfigur, das die Leser zu Tränen rühren wird. Das Telefon klingelt. Jemand will uns einen günstigen Handytarif andrehen, wir willigen ein, um möglichst schnell zu unserem Text zurückzukehren, – und alles ist weg, die Figur, die Geschichte, der Flow. Schwefelstank und Krötenschleim!!!
Die Kraft des Augenblicks
Der bekannte spirituelle Lehrer Eckart Tolle hat ein Buch geschrieben, das sich mit genau dem befasst, was wir Autoren als Reiter des geflügelten Pferdes brauchen: „Jetzt. Die Kraft des Augenblicks“. Wir müssen da sein, präsent, voll und ganz im Hier und Jetzt, so gegenwärtig, dass wir die Mücke kommen sehen, dass wir vorbereitet sind und fest im Sattel sitzen, wenn sie sticht.
Die Kraft des Augenblicks ist ein wesentliches Element des spirituellen Weges. Das Geheimnis heißt Achtsamkeit, Wachsamkeit, klares Bewusstsein. Nur im Augenblick können wir kreativ sein. Nur im Augenblick können wir etwas noch nie Dagewesenes erschaffen. Genau darum geht es beim Geschichtenerzählen und Schreiben. Wir schreiben nicht etwas Bekanntes ab (dann hätten wir ein Urheberrechtsproblem). Wir können auch nicht mechanischen Regeln aus Schreibratgebern folgen (dann liefern wir vorhersehbare Geschichten). Wir müssen originell, neu und frisch sein. Im Augenblick.
Aber wie kommen wir dahin? Jederzeit, meint Eckart Tolle. Der Augenblick ist immer da, wir müssen ihn nur wahrnehmen. Das heißt nichts anderes als ganz bei der Sache zu sein. Eine Art von Konzentration, die zugleich mühelos ist. Ich will nicht sagen, dass dies eine einfache Übung ist, schließlich befassen sich Menschen seit Jahrtausenden mit diesem Phänomen. Die gute Nachricht: Wir Autoren üben uns schon pausenlos darin. Die Arbeit mit Sprache zwingt uns in den Augenblick.
Die Präzision, mit der wir das passende Wort suchen, um uns auszudrücken ist eine spirituelle Übung, die einer Meditation in den windigsten Klöstern des Himalaya in nichts nachsteht. Das Schreiben bringt uns in ein Bewusstsein, das wir in der Natur, bei den Pferden und in den spirituellen Schulen dieser Welt antreffen. Autoren, die mit Tieren zusammenleben, wissen es: Tiere leben immer in der Gegenwart, jenem Zustand, den spirituelle Meister Erleuchtung nennen.
Wir Menschen fallen jedoch leicht wieder heraus, es sei denn wir verbringen viel Zeit in diesem Zustand, zum Beispiel dadurch, dass wir viel schreiben. In der Regel ist uns nicht bewusst, dass wir diese spirituelle Fähigkeit schon zu einem gewissen Grad entwickelt haben. Und dass uns als Autoren dasselbe antreibt wie den spirituellen Sucher: ein hohes Bewusstsein des Augenblicks. Wenn wir uns mit den Eigenheiten dieses Gegenwarts-Bewusstseins befassen, wie es spirituell Übende tun, gewinnen wir viel für unsere Kreativität.
Eine kleine Übung:
Beobachte den Fluss deiner Aufmerksamkeit. Wohin gehen deine Gedanken, wie ist der Fluss deiner Inspiration, wann bist du müde, wann bist du wach? Beobachte, ohne zu urteilen und ohne etwas zu verändern oder willentlich zu beeinflussen.
Folge dem Fluss als wärst du ein Blatt in einem großen Strom. Dann wirst du immer müheloser schreiben und was du schreibst, wird immer stimmiger werden. Du wirst auch bemerken, was dir Kraft gibt und was dir Kraft raubt. Du wirst deine ganz persönliche Kreativität kennenlernen und sie wird sich vielleicht von dem unterscheiden, was du über Kreativität gelernt oder gelesen hast.
Mache diese Übung solange bis du EINE Erkenntnis gewonnen hast und schreibe diese Erkenntnis auf.
Am nächsten Tag kannst du die Übung wiederholen und eine neue Erkenntnis aufschreiben. So wächst dein Bewusstsein, unmerklich, aber wirksam. Der spirituelle Weg ist ein Schritt-für-Schritt-Weg. Auch dieses Prinzip dürfte dir als Autor, als jemand der ein Wort nach dem anderen schreibt, bestens bekannt sein.
Herzlichst
Ulrike Dietmann