Märchen werden uns doch in der Politik schon genug erzählt...
von Oliver Unger -
Märchen - ist da nicht so etwas wie Phantasie, Sehnsucht, Wunder darin? Regen die Märchen unsere Träume an? Damit könnte man schon vollkommen zufrieden sein. Phantasie, Sehnsucht, Wunder, Träume – das entführt uns sicherlich schon für eine kleine Weile aus unserem täglichen Ablauf und bringt uns auch abends mal vom Fernseher weg.
Märchen regen zum Nachdenken und Philosophieren an und wer mag darf auch darüber diskutieren: Warum darf die Prinzessin den Frosch gegen die Wand werfen und wird dafür auch noch belohnt? Wir, als normaler Bürger dürften uns das sicherlich nicht erlauben, oder?
Als wir Kinder waren, haben uns die Märchen unterhalten. Und manche sagen, dass Märchen eine tiefe Wirkung auf die Psyche haben sollen. Genau werden wir es nie erfahren, wie unsere Märchen unsere Kindheit vielleicht bereichert, gerettet oder auch beengt haben. Auf eine bestimmte Weise finden wir uns im Prinzen oder im König, sowie der Prinzessin oder auch im schlammigen Eisenhans unbewusst wieder. Auch die dumme Gans oder der blutende Finger, nachdem wir uns im Geiste gemeinsam mit Dornröschen an der Spindel gestochen haben, berührt zumindest das visuelle Zentrum im Gehirn und setzt darauf Botenstoffe frei, die den Fluss von Emotionen in uns anregen.
Geplante Taktik?
Märchen sind – im Gegensatz zu den meisten Geschichten, die heutzutage verbreitet werden – nicht aus politischen Gründen entstanden. Auch wenn man dies meinen könnte. Denn sie sprechen indirekt und trotzdem deutlich Defizite in der Gesellschaft oder im Leben an. Manchmal gibt es auch einen moralischen Zeigefinger. Doch wie unterscheiden wir nun ein „Politik - Märchen“ der New York Times oder der Bild-Zeitung von einem Märchen, dass unsere Seele berühren und heilen kann?
Genügend Spielraum für eigene Interpretationen lassen beide. Grund zur Aufregung über die Gewaltverherrlichung in beiden Fällen gibt es ebenfalls genug. Man denke bloß an den abgehackten Finger des Suppenkaspers.
Es mag das Alter der Märchen sein und die lange Zeit, die sie in unserer Gesellschaft immer wieder erzählt und auf diese Weise lebendig gehalten wurden, die ein Märchen zu einer kraftvollen Metapher machen. Und dennoch spielen sie sich nicht in Raum und Zeit ab, haben keinen historischen, sondern nur nur seelischen Raum. Märchen sind Arbeit für die Seele und daher Wirklichkeit für eine bestimmte Zeitspanne. Die in ihr enthaltenen Symbole dringen auf eine Weise in unsere Seele ein, wie es eine Bildzeitung zum Glück niemals könnte.
Hass, Zorn, Rache und Begehren sind die Triebfedern so mancher Tat. Es gibt vergiftete Kämme und Äpfel, gläserne Särge und sieben Zwerge, die das Leben bestimmter Damen beeinflussen. Symbole dieser Art führen die Ströme im Gehirn hin und her und dabei können sich die Nervenzellen neu vernetzen. Es entstehen Lösungen, die vorher nicht möglich gewesen wären, dadurch, dass wir im Denken an so ungewöhnliche Schauplätze geführt werden. Die gleiche Übung im Sportstudio ausgeführt, würde uns Muskeln bringen und Sehnen dehnen. Märchen trainieren also die Hirnmuskulatur – ganz ohne dass wir es merken. Denn wer würde schon freiwillig erst an einen Kamm denken, dann an einen Apfel und danach an einen gläsernen Sarg?
Und doch sollten wir dies einfach mal tun, denn es bringt kreativeres Leben hervor, als den ganzen Tag nur in einen Bildschirm zu schauen oder Akten hin- und herzutragen. Ängste überwinden, sich mal etwas trauen, auch wenn die Sache aussichtslos scheint, ungewöhnliche Lösungen suchen, sich auch als Schwacher trauen, sich mit Stärkeren anzulegen und dabei schlau statt stark zu sein, das Beste aus der eigenen Dummheit machen … könnten wir das überhaupt ohne Märchen?
Könnten wir sehen, dass gerade das benachteiligte Eselein durch seine Hufe und unedle Gestalt erst zu der Prinzessin und damit zu seinem Leben in Glück und Wohlstand gefunden hat? Nur wer so wenig zu verlieren hat, wie das Eselein oder die Goldmarie, ist auch bereit in den Brunnen zu springen. Nur derjenige traut sich, in die unbekannten Tiefen der Seele vorzudringen und sich damit auf einen individuellen kraftvollen Weg zu begeben. Und was wäre der Held ohne die Herausforderung durch das Böse? Letzten Endes verdankt er gerade ihm sein Glück. Seine neuen Fähigkeiten und Lösungen entwickeln sich oft aus dieser Not heraus.
Für die Zeit, in der du einem Märchen zuhörst, nimmt es dich mit auf eine Reise.
Und wer hat auf dieser Reise noch nicht vom Prinzen oder der Prinzessin geträumt? Es sind die inneren Prinzen und Prinzessinnen, die sich finden und uns vervollständigen sollen. Die Prinzen sind die Seelenanteile, die integriert werden wollen, um uns kraftvoller und stärker zu machen. Das Märchen sagt, wie zum Beispiel in der Geschichte vom „Hans im Glück“: Das Leben hat Sinn. Du kannst vertrauen. Märchen weisen darauf hin, dass man im Leben zurechtkommen und in den Gegebenheiten des Lebens Sinn finden kann. Das Gute siegt hier immer, die Macht des Bösen ist nicht grenzenlos.
Hier liegt der Gegensatz zur Intention „politischer Märchen“, die unser Inneres lieber geteilt und damit geschwächt sehen wollen. Sie verbreiten Angst, um uns enger zu machen. Sie suggerieren uns, dass das Böse siegen wird.
Doch das Leben schenkt uns, genau wie im Märchen seinen Figuren, nicht einfach so irgend welche Dinge, wie Tischlein, Esel usw., sondern Möglichkeiten. Jene Gaben verwirklichen sich genau an dem Punkt, wo der Held und seine Aufgabe zusammentreffen. Die Geschenke dienen zur Bewältigung der entscheidenden Aufgaben, nicht zum dauerhaften bequemen Gebrauch. Märchen eröffnen uns den Blick darauf, dieses auch im Alltag erkennen zu können. Nur die Unhelden, z.B. die Stiefmütter oder älteren Brüder, geben sich zufrieden, wenn sie einen Berg voll Silber oder Gold finden. Den eigentlichen Helden treibt es in eine tiefe Schau und damit weiter.
Zur wissenschaftlichen Seite der Märchen sei gesagt, dass die von den Gebrüdern Grimm gesammelten Märchen ja eigentlich nie für Laien gedacht waren, sondern dass die Grimms diese für die wissenschaftliche Betrachtung publiziert haben. Doch das fertige Werk wurde hauptsächlich von Laien gekauft. Daraufhin wurden viele der grausamen Aspekte später abgeschwächt.
Gefühlskalt sind die Märchen allemal. Über Emotionen wird wenig erzählt, um daraus Atmosphäre zu schaffen. Wenn überhaupt, sind Gefühle lediglich ein Element der Handlung. Die Figuren haben nicht offenkundig hörbare seelische Tiefe. Ihr Charakter zeigt sich in ihren Handlungen. Darum ist es wichtig, beim Zuhören möglichst bildhafte Vorstellungen entstehen zu lassen. Märchen wirken in ihren Bildern, nicht mit Gefühlen. Die Figuren im Märchen haben weder eine Innenwelt noch eine Umwelt. Die Erzählweise ist flächenhaft, zeitlos. Es wird nicht ausschweifend beschrieben, es wird nur genannt und gehandelt.
Fast wie magisch finden wir auf diese Weise den Schlüssel verborgen, mit dem wir die Tür in unsere eigene Innenwelt öffnen können. Unsere Vorlieben und Abneigungen in Bezug auf welches Märchen, welchen Helden und welches Symbol entschlüsseln unser Lebensskript. Dies ist eine Kette von Entscheidungen, die wir sehr früh in der Kindheit getroffen haben. Sie betrifft Annahmen darüber, wie die Welt ist und wie wir in ihr zu leben haben. Es werden Fragen beleuchtet, die die psychologische Ursache unserer alltäglichen Sorgen betreffen. Man denke an die zahlreichen Frauen, die ständig unter dem Leistungsdruck leben müssen, Unmögliches möglich machen zu müssen. Um ihrem Vater zu gefallen und seinen Ansprüchen gerecht zu werden, muss das Mädchen Stroh zu Gold spinnen. Das Rumpelstilzchen hilft ihr zunächst und wird dann zur Bedrohung. Wie die erwachsene Frau dann mit ihm umgehen kann, lässt Raum für Kreativität.
Bei der nächsten Märchenstunde im Ridaya, die du besuchst, frage dich selbst:
Was gefällt dir, was nicht?
Was würdest du weglassen / verändern / hinzudichten?
Welche Figur gefällt dir, welche nicht?
An welchen Stellen kannst du beim Zuhören gut folgen und wann nicht?
Was dies bedeuten könnte ist vielleicht etwas weniger interessant, als zu beobachten, welche Empfindungen in dir ausgelöst werden.
Und vergiss dabei nicht:
Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Herzlichst Oliver Unger